Das Leben einer anderen Welt

Tagebuchnotizen von Vera Klischan
über ihren Aufenthalt in Malawi

Malawi.Globus

Malawi (Wikipedia) ist ein Binnenstaat in Südostafrika,
der am 6. Juli 1964 seine Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich erlangte.
Malawi hatte im Jahr 2023 etwa 20,9 Millionen Einwohner;
die Hauptstadt ist Lilongwe.

Das jährliche Bevölkerungswachstum betrug + 2,5 %. Zum Bevölkerungswachstum trug ein Geburtenüberschuss bei. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2022 statistisch bei 3,8, die der Region Ost- und Süd-Afrika betrug 4,3.
Die Lebenserwartung der Einwohner Malawis ab der Geburt lag 2022 bei 62,9 Jahren. Der Median des Alters der Bevölkerung lag im Jahr 2021 bei 16,8 Jahren. Im Jahr 2023 waren 42,0 Prozent der Bevölkerung unter 15 Jahre, während der Anteil der über 64-Jährigen 2,5 Prozent der Bevölkerung betrug.

Die meisten der etwa 18 Millionen Einwohner gehören verschiedenen Bantuethnien an. Es werden insgesamt 13 verschiedene Kultur- und Sprachgruppen unterschieden.

 

Vera Klischan ist für ein Schulprojekt nach Malawi geflogen, das ihr Hamburger Rotarylub mit zwei weitern deutschen Clubs und einem malawischen ins Leben gerufen haben.
Sie bekam die Chance, sich der schwedischen Reisegruppe anzuschließen, wohnt nun mit ihnen in Mua, das etwa 150 Kilometer von der Hauptstadt Lilongwe in dörflicher Umgebung liegt.
Vera.Malawi

Tag 1 in Malawi – 10.3.2025

Mit Streik am Hamburger Flughafen fing meine Reise nach Malawi an. Statt Lufthansa Deutsche Bahn nach Frankfurt – und das übervoll. Na klar, wir waren nicht die einzigen Streikgeschädigten. Pünktlich ging es am Abend mit Ethiopian Airlines nach Addis Abeba. Nach einer mehr oder weniger durchwachten Nacht an Bord schlich ich mit meiner Freundin Cäcilie und dem schwedischen Ärzteteam am frühen Morgen durch den quirligen afrikanischen Flughafen. Ich fliege für ein Schulprojekt nach Malawi und habe mich den sechs schwedischen Ärzten und Ärztinnen angeschlossen.

Von Addis ging es Richtung Malawi, leider nicht direkt, sondern mit Zwischenlandung in Lubumbashi in der Demokratischen Republik Kongo. Mitten im Busch setzte das Flugzeug auf, um sich einer großen Ladung Chinesen zu entledigen. Wir Weitereisenden blieben an Bord und konnten kurze Zeit später ein ähnliches Volumen neuer Chinesen zur Weiterreise begrüßen.

Nach 24-stündiger Reise erreichten wir endlich unser Ziel Lilongwe, die Hauptstadt von Malawi. Unser Ziel war das Krankenhaus Mua, das wirklich nichts mit einem deutschen Krankenhaus zu tun hat. Das Ärzteteam will dort eine Woche lang operieren und Zähne richten und behandeln. Schon in der Vergangenheit wurde vielen Kindern mit deformierten Gliedmaßen und Gaumenspalten eine neue Lebensqualität geschenkt.

Wir starteten in zwei Autos Richtung Mua Mission Hospital, ein Krankenhaus auf dem Land nur umgeben von armseligsten Dörfern.

Zunächst ging es noch im subtropischen Sonnenschein über die quirlige afrikanische Durchgangsstraße. Kein Mittelstreifen, keine Befestigung am Fahrbahnrand und auch keine Beleuchtung, wie wir später feststellten. Noch war die Stimmung gut. Mit einsetzender Dunkelheit stieg die Spannung im Wagen. Alle schauten gebannt auf die dunkle Straße voller Fußgänger, Motorräder, Fahrräder und Riesenlastern, die gern mal auf die Gegenfahrbahn auswichen. Immer wieder kamen uns bedrohlich schnell Scheinwerfer auf unserer Fahrbahn entgegen, um im letzten Moment in einem messerscharfen Manöver auszuweichen. Unsere Stoßgebete standen stumm im Raum bis wir endlich unser Hospital erreichten.

Tag 3 in Malawi – 12.3. 2025

 Ich habe einen ersten Eindruck vom Leid der Menschen hier. Getragen von Hoffnung auf Heilung oder Linderung kommen sie oft von sehr weit her ins Krankenhaus. Dort sitzen sie geduldig viele Stunden lang bis sie endlich an der Reihe sind. Niemand klagt. Das harte Leben hat sie anspruchslos gemacht.

Die schwedischen Ärzte operieren am Fließband. Schwerste Verbrennungen, Lippen- und Gaumenspalten und Tumore sind die häufigsten Leiden, die die Menschen oft seit Jahren quälen. Ein Arzt ist unbezahlbarer Luxus für die meisten Menschen in Malawi.

Mus Mission Hospital

Ich habe den Dienst im Aufwachraum übernommen. Es ist mir ein großes Bedürfnis, die Ärzte, die mit ihrem beispiellosen Einsatz, neue Lebensqualität schenken, zu unterstützen. Wenn ich die tief schlafenden Menschen betrachte, kommt unwillkürlich der Gedanke an Zukunft auf. Haben sie eine im drittärmsten Land auf dem ärmsten Kontinent der Welt? Sie kommen oft in ärmlichster Bekleidung, die wenigen Habseligkeiten in einer Plastiktüte. Beschämt steht mir unser Wohlstand vor Augen. Worüber beschweren wir uns? Vielen blutjungen Müttern steht das harte Leben ins Gesicht geschrieben. Wie erloschen sitzen manche neben ihren operierten Kindern.

ein Krankenzimmer

So wenigen Menschen wird geholfen, aber wie viele müssen ohne Hilfe leben oder sterben. Lohnt sich das denn überhaupt? Die schwedische Ärztin Gyi sagte einen unglaublich schönen Satz:
“Es ist nur ein Tropfen im großen Meer, aber für den einzelnen ist es das ganze Meer.“
Ja, es ist das ganze Meer, wenn dem Baby nicht mehr die Milch aus dem Mund fließt wegen einer Lippenspalte oder wenn eine alte Frau plötzlich wieder selbständig gehen kann. Das war heute so deutlich.

Ich bewundere die schwedischen Ärzte zutiefst. Sie stehen den ganzen Tag im OP und behandeln die Ärmsten der Armen – ohne einen Pfennig Geld. Als ich endlich um 19.30 Uhr meine Schicht beendet hatte und zu meiner Lodge wollte, war mein Fahrer weg. Nun stand ich da in tiefschwarzer afrikanischer Nacht. Der Weg ist nicht weit, nur 10 Minuten. Im Hellen kein Problem, aber im Dunkeln keinesfalls zu machen. Ein Wachmann hat sich schließlich erbarmt und mich durch den stockdunklen Busch mit einer Taschenlampe geführt.

Tag 4 in Malawi   13.3. 2025

Heute habe ich wieder den ganzen Tag im Krankenhaus verbracht. Der Aufwachraum ist mein Arbeitsfeld. Es gibt keine Maschinen oder Geräte zur Überwachung der Körperfunktionen, nur meinen aufmerksamen Blick. Die Patienten werden in ihrer Kleidung operiert. OP-Hemden – nicht dran zu denken. Zum Aufwachen liegen sie auf nicht mehr ganz sauberen Decken. Unser deutscher Hygienestandard ist Lichtjahre entfernt. Viele sind HIV positiv, auch viele Kinder.

Die Schlange der Patienten, die geduldigst auf harten Steinstufen ausharrt, wird immer länger. Es hat sich in den Dörfern herumgesprochen, dass im Krankenhaus „swedish doctors“ sind. Der Glaube in ihre Fähigkeiten ist unbegrenzt, getragen von der Hoffnung auf weniger Schmerzen, weniger Einschränkungen und ein längeres Leben. Schwerste Verbrennungen bei Kindern waren heute besonders häufig.

Krankenhausküche des Mua Mission Hospital

Da die Dörfer ohne Strom und Gas auskommen müssen, kochen die Frauen auf dem Boden mit Holzkohle.  Wie schnell fasst ein kleines Kind ins Feuer oder bemächtigt sich eines kochend heißen Suppentopfes? Meine Phantasie reichte nicht für ein solch archaisches Leben aus. Jetzt weiß ich es und bin mir auch bitter der Konsequenzen bewusst. Wie beglückend ist daher ein von Falten zerfurchter Großvater, der vor Freude weint, als seine kleine Enkelin durch die Operation wieder funktionsfähige Finger bekommt. „Angel“ sind wir für ihn. Aus seiner Sicht sind wir Engel.

Voller Dankbarkeit trete ich am Abend den Weg zu meiner Lodge an – heute mit Fahrer. Dankbar für diese Erfahrung, dankbar für Menschen, die ihren Urlaub damit verbringen, zehn Stunden am Tag zu operieren, dankbar dafür Zeugin zu sein, wie sehr die Taten der „swedish doctors“ ein Leben verändern. Aber auch dankbar für alles, was mein Leben ausmacht ohne diesen täglichen Kampf der Menschen hier in größter Armut.

Später liege ich in meinem Häuschen unter dem Moskitonetz und lausche dem Sound des afrikanischen Busches. Schnarren, Pfeifen, Trillern, Fauchen – das Konzert Afrikas.

Tag 5 in Malawi   14.3. 2025

Am 5. Tag mache ich mit meiner Freundin Cäclie einen Ausflug nach Nganja in die Tiyende Pamodzi Girls Secondary School. Die Entfernung beträgt höchstens 20 Kilometer. Aber in Malawi zählen Kilometer anders. Für die Strecke benötigen wir fast eine Stunde.
Wieder das ganze Programm - Fußgänger ungehemmt im Verkehr, Fahrräder und Gegenverkehr in der eigenen Spur. Aber es ist hell, der Himmel blau. Nur die subtropische Feuchtigkeit macht uns schwer zu schaffen.

Tiyende Pamodzi Girls Secondary School Malawi

In der Schule angekommen, die ich bereits von einem früheren Besuch kenne, staune ich wieder einmal über den modernen Bau in ansprechenden Farben. Die Klassenzimmer sind gut möbliert und die Schuluniform der Mädchen rundet den geordneten Eindruck ab. Der Stellvertretende Schulleiter empfängt uns mit sichtlicher Freude. Verständlich, denn mit uns kommt das so dringend erforderliche Geld.

Der schöne Bau darf nicht über die gravierenden finanziellen Probleme der Schule hinwegtäuschen. Die Regierung des bettelarmen Landes kann kaum unterstützen, die Eltern erst recht nicht. Da sind internationale NGO’s gefragt, die im ganzen Land segensreich wirken. So werden auch drei Rotaryclubs in Norddeutschland - , unter anderem meiner -  mit Hilfe der Rotary Foundation in Chicago die Schule mit einer nicht unerheblichen Summe unterstützen.

Wir gehen mit Mr. Yona den Katalog der Dinge und Maßnahmen durch, die vom rotarischen Geld finanziert werden sollen. Es ist ein unglaublicher Schub nach vorn für die Schule der 12-18-jährigen Mädchen. Computer, Lernmaterial, Betten für die Internatsschülerinnen…
Sehr viele können den langen Weg nicht bewältigen und müssen während der Woche in der Schule übernachten. Nicht selten werden die sehr jungen Mädchen schwanger, da sie oft ungeschützt vom Elternhaus in der dörflichen Gemeinschaft leben. Deswegen gibt es eine Krippe, um schon die Kleinsten mitbringen zu können. Wieder einmal sagen wir den Schülerinnen eindringlich, wie wichtig ihre Bildung ist, das Tor zum selbstbestimmten Leben. Auch eine Schwangerschaft darf diesen Weg nicht unterbrechen.

In der Tiyende Pamodzi Girls Secondary School Malawi

Wir erleben sehr lernwillige junge Mädchen, die verstanden haben, welche Chance diese Schule ihnen bietet. Wir können nur hoffen, dass die Motivation bleibt, dass sie nicht irgendwann falsch abbiegen auf ihrem harten Weg.

Am frühen Nachmittag geht es zurück ins Krankenhaus, wo unsere unermüdlichen schwedischen Freunde und Freundinnen schon wieder seit dem frühen Morgen operieren. Sofort nehme ich meinen Platz im Aufwachraum ein. Vor mir liegt ein 12-jähriger Junge mit allerschwersten Verbrennungen, die er sich im Alter von 2 Jahren im Feuer zugezogen hat. Hals, rechter Arm und Brust sind vollständig mit Narben übersät. Von der rechten Hand ist nahezu nichts mehr übrig. Die großen Narbenflächen haben seine Bewegungsfreiheit zehn Jahre lang unendlich eingeschränkt. Er konnte weder seinen rechten Arm bewegen noch seinen Kopf drehen.

Im Aufwachraum

In einer langwierigen Operation haben die Ärzte seinen Arm weitgehend freigelegt. Dafür mussten sie ihm einige Stücke Haut transplantieren. Damit haben sie ihm ein großes Stück Bewegungsfreiheit geschenkt, ebenso wie Schmerzfreiheit und mehr Selbstständigkeit. Seine blutjunge Mutter saß mit mir an seiner Liege, überwältigt von dem, was mit ihrem Sohn geschieht. Die Narkose, der tiefe Schlaf, beunruhigte sie sehr. Endlich schlug er seine Augen auf und sah seine Mutter an, die ihn ansprach „Prince“. Was für ein Name für ein derart versehrtes Kind. Er ist ihr Prinz. Das sind die Momente, die mir in Erinnerung bleiben.

Als ich am Abend in meiner gähnend leeren Lodge mein Abendmahl einnahm, saß am Nachbartisch ein deutsches Paar. Es ist in etwa so, als wenn ich einen Eisbären in diesem afrikanischen Schwitzkasten treffen würde, schoss es mir durch den Kopf.

Es dauerte wenige Minuten und wir waren im Gespräch. Es stellte sich heraus, dass es sich um die Vorsitzende der deutsch-malawischen Gesellschaft und ihren Ehemann - ein Hochschulprofessor, der in Kapstadt lehrt - handelt. Ein Paar, das sich seit Jahren sehr um die Belange dieses Landes kümmert, das viele Kontakte im Land pflegt und sehr genau über die aktuelle Situation informiert ist. Ein ehrenamtliches Engagement! Auch dieses Ehepaar konnte ich sofort meiner Sammlung der sehr beeindruckenden Persönlichkeiten auf dieser Reise hinzufügen.

Tag 6 in Malawi   15.3.2025

Heute gönnt sich das schwedische Ärzteteam eine Auszeit nach einer Woche mit langen Tagen voller Operationen und Konfrontation mit sehr viel Leid. Jeder einzelne Fall geht ans Herz. Die ganz Kleinen mit angeborenen Deformationen, die größeren Kinder mit zum Teil schwersten Verbrennungen und auch die Alten mit teils jahrzehntelangen Leiden, die sie klaglos mit sich herumschleppen. Jede Behandlung im Krankenhaus kostet Geld. Daher warten die Familien oft viel zu lange, bevor sie ihre Kranken an die richtige Stelle bringen. Zu oft werden im Dorf „Wunderheiler“ aufgesucht, die das Leiden nicht selten verschlimmern. Nur bei den schwedischen Ärzten ist die Behandlung kostenfrei. Daher die immer länger werdenden Schlangen. Diejenigen, für die keine Zeit bleibt, werden auf Oktober vertröstet, wenn das Ärzteteam zurückkommt

Aber heute ist Erholung angesagt. Es geht nach Salima in die Safari Beach Lodge am Malawisee.

Wikipedia: Monkey Bay am Südufer des Malawisees mit ortstypischen Booten

Beach stimmt, Safari nicht! Ich bin der Nutznießer dieser Erholungsaktion, weil ich nicht annähernd so viel geleistet habe. Wieder geht es über die bekannte Straße bis wir schließlich in der Lodge ankommen. Ein schöner Garten offenbart sich uns mit Blick auf den riesigen Malawisee. Cäcilie und ich beziehen ein Häuschen aus roh behauenem Stein mit einer kleinen Holzterrasse, schauen auf den See und fühlen uns ein wenig wie Tania Blixen vor hundert Jahren auf ihrer Farm in Kenia.

Wir lassen die Woche noch einmal an uns vorbeiziehen. Wie soll das Land auf die Beine kommen? Ohne Bodenschätze, fast ohne Tourismus und ohne Zugang zum Meer. Selbst der Fluchtweg nach Europa ist viel zu lang und unüberbrückbar. Korruption, Armut und Überbevölkerung sind die großen Steine, die diesem Land im Weg liegen. Soll es überhaupt weitergehen mit dem Einsatz der Ärzte, die eine lange Reise auf sich nehmen, ihren Urlaub spenden und bis auf den Flug die Kosten selber tragen?
Ich beginne zu verstehen, was sie immer wieder zurückkehren lässt zu einer Aufgabe, die sie mit Menschen konfrontiert, denen wir im westlichen Europa kaum begegnen. Parasiten, HIV, schwerste Deformationen, unheilbare Krankheiten, schlimmste Geschwüre – sind die Krankheitsbilder des armen Afrikas hier in Malawi. Ich verstehe, dass es sie zutiefst glücklich macht, Menschen das Leben ein wenig zu erleichtern, Eltern ein nahezu wiederhergestelltes Kid zurückzugeben. Zurückgeben von dem Privileg, in welche Umgebung wir hineingeboren wurden.

Am Abend essen wir im tropisch warmen Garten am Ufer des Malawisees. Die sehr angestrengten Ärzte laden langsam ein wenig Spannung ab. Trotz der Kurzurlaubatmosphäre drehen sich alle Gespräche um die Patienten. Die schweren Krankheitsbilder, die zum Teil mit größter Geduld und oftmals Resignation ertragenen jahrelangen Leidenswege lassen uns alle nicht los.

Ich habe alle – bis auf meine Freundin – erst in dieser Woche kennengelernt. An diesem Abend spüre ich, wie sehr ein gemeinsames Engagement Vertrautheit schafft, wie sehr die Freude über ein wiederhergestelltes Kind Brücken schlägt und wie sehr die tief eingegrabenen Bilder im Kopf uns alle verbinden.

Tag 7 in Malawi – 16.3. 2025

Cäcilie und ich erwachen früh in unserem Steinhäuschen am See. Wir setzen uns auf die Terrasse und schauen auf den See. Ab und zu fahren Fischerboote vorbei, die aus einer anderen Epoche zu stammen scheinen. Archaisch anmutende Holzboote, die mit Körperkraft bewegt werden. Auch auf dem See scheint die Zeit irgendwann stehengeblieben zu sein.

Wir verbringen den Vormittag in unserer Lodge mit Reden, Lesen, Nichtstun – Auftanken für den nächsten Tag im Krankenhaus. Mit ein wenig Zeit zum Austausch kommen wir an die Themen heran, die jeder von uns mit Sorgen im armen Malawi beobachtet. Wir reden über den großzügig ausgestatteten Nähraum in der Secondary School. Mindestens 20 Singer Nähmaschinen stehen dort in Reih und Glied und warten auf ihren Einsatz. Aber wofür? Afrika wird derart überschwemmt mit Altkleidern aus Europa, dass der Bedarf mehr als gedeckt ist. Die riesigen Rot Kreuz Ladungen, die in bester Absicht geschickt werden, bedrohen die heimische Produktion. Was soll bei diesem Überangebot an europäischen Altkleidern noch in Afrika produziert werden? Unser massenhaftes Modeangebot, unsere extrem schnelllebige Bekleidungsindustrie verleitet zu immer neuen Käufen, die dann wieder im Altkleidercontainer entsorgt werden und die Singer Maschinen in Malawi arbeitslos machen. Ein toxischer Kreislauf!

Wohnhaus in Malawi

Gegen Mittag fahren wir wieder Richtung Mua. Am Nachmittag werden wir im Krankenhaus von Geoffrey erwartet, dem Hauptpfleger. Ein wunderbarer Mann mit viel Humor, hoher Fachkenntnis und einem großen Herzen für seine Patienten. Er hat uns eingeladen, die von ihm gegründete HIV-Selbsthilfegruppe zu treffen.

 

HIV Selbsthilfegruppe

Von ihm geführt schlängeln wir uns durch halbhohes Gras. Den Blick oft nach unten gewandt in der Hoffnung, dass sich niemand an uns heranschlängelt. Am Ende der Regenzeit sind viele Schlangen unterwegs. Ein wunderschöner Weg, der uns wieder einmal die Schönheit der Natur in diesem Land vor Augen führt.

Unser Ziel ist ein mächtiger Baum. Unter seinen Zweigen hat sich im Kreis auf wackeligen Bänken die HIV-Selbsthilfegruppe versammelt. Etwa 30 Personen – jung und alt, Frauen und Männer. Alle strahlen uns in ihrem sehr ärmlichen Outfit an. Die Freude über unser Kommen steht jedem ins Gesicht geschrieben.

 

Die Selbsthilfegruppe

Geoffrey stellt uns und die Gruppe vor. Er hat sie vor einem Jahr gegründet. HIV ist in Afrika sehr verbreitet, auch in Malawi. Mit dieser Gruppe will er die Menschen mit ihrer Krankheit sichtbar machen, sie aus ihrem Versteck holen. Mehr noch! Gemeinsam werden sie Botschafter, gehen in die Dörfer, bekennen sich zu ihrer Infektion und informieren die Menschen, wie man sich schützen kann, wie man aber auch mit der Krankheit umgeht. Geoffrey will die Krankheit ans Licht bringen, den Menschen ihre Würde zurückgeben, indem er sie nicht nur auf ihren Status des HIV positiven Menschen reduziert, sondern ihnen eine Bedeutung als Botschafter gibt. Als Botschafter, die den Menschen in ihren Dörfern vermitteln, dass Gesundheit auch in ihrer eigenen Verantwortung liegt. In der Mitte des Kreises liegt eine gespendete Wasserpumpe. Wir erfahren, dass damit ein der Gruppe gehörendes Stück Land bebaut werden soll, um mit Hilfe der Pumpe zwei Ernten im Jahr zu erreichen. Mein Bild von Afrika wird durch diese tatkräftigen, nach vorn schauenden Menschen wieder einmal gehörig auf den Kopf gestellt. Tief beeindruckt von der Gruppe, die aus ihrem Schicksal Kraft schöpft, neues Selbstbewusstsein entwickelt und Verantwortung entwickelt, treten wir den Rückweg durch die Dämmerung an. Jeder einzelne hat durch den wunderbaren Geoffrey Bedeutung bekommen. Das sind die Helden, die ich in diesem Land treffe.

Tag 8 in Malawi   17.3.2025

Heute heißt es Abschied nehmen vom Krankenhaus in Mua, in dem ich in wenigen Tagen so viel erleben durfte. Großes Leid, schlimmste Verstümmelungen und Verletzungen, aber auch wiedergewonnene Lebensqualität, Schmerzfreiheit und Mobilität. Das alles durch die phantastische Ärztegruppe aus Schweden. Die Armut im Land konnte ich jeden Tag spüren. Die große Anspruchslosigkeit, das mit größter Geduld ertragene Leid. In der Umgebung des Krankenhauses konnte ich sehen, wie die Menschen leben. In kleinsten Hütten, nicht immer mit Strom ausgestattet. Sie haben ihren Rhythmus der Natur angepasst. Sie gehen ins Bett, wenn es dunkel wird und stehen im wahrsten Sinn des Wortes mit den Hühnern auf. Die meisten essen jeden Tag dasselbe, oft zweimal am Tag - Sima. Das ist ein Maisbrei, der nicht viel kostet und schnell herzustellen ist. Bei unserem Wochenendausflug nach Salima hätte unser Fahrer sich jedes Essen bestellen können auf unsere Kosten. Er ordert Sima. Nichts anderes kennt er.

dankbarer Abschied

Trotz der unzähligen Entbehrungen, die ich mit Sicherheit im Abgleich mit meinem Leben viel stärker wahrnehme, erlebe ich so viel Herzlichkeit und Dankbarkeit, obwohl ich nur die Aufgabe im Aufwachraum hatte. Alle kommen, um uns zu verabschieden mit viel ehrlicher Würdigung der Arbeit der Ärzte. Sie beschwören uns wiederzukommen. Cäcilie als Motor des gesamten Projektes ist die Lichtgestalt der Menschen. Sie ist das Versprechen für die stetige Weiterentwicklung des Krankenhauses, eine bessere medizinische Versorgung. Sie gibt die Richtung vor. Natürlich sind auch ihr und ihrer Stiftung Grenzen gesetzt, die sie immer wieder deutlich formuliert. Trotzdem sehen die Menschen in ihr eine Art Heilsversprechen.

Wir haben lange darüber gesprochen, wie schnell man vom individuellen Schicksal der Patienten überwältigt ist. Wie groß ist der Reflex, den einzelnen mit Geld oder Kleidung zu helfen! Eine Erfahrung, die wir alle machen, aber auch eine Falle, in die wir nicht treten wollen. Es ist so viel wichtiger in Infrastruktur zu investieren. Mit Geld, mit eigenem Engagement, mit Beratung und Anleitung. Wir helfen den Menschen hier nicht, in dem wir einzelne Löcher stopfen, individuelle Bedürfnisse bedienen. Wir helfen ihnen, sich auf ihre Füße zu stellen, einen Lebensplan zu entwickeln, ihnen Wissen zu vermitteln. So wie in dieser Woche die Zahnärztin aus Lübeck mit ihrem Zahntechniker, die jeden Tag junge Leute in Prothetik geschult haben. Das Ziel muss Unabhängigkeit sein. Das ist ein sehr weiter Weg, auf dem die Ärzte in dieser Woche ein großes Stück weitergekommen sind. Bei allen Operationen haben sie die lokalen medizinischen Kräfte geschult. Wenn einzelne vielversprechende junge Menschen finanziell gefördert werden, dann mit einer guten Ausbildung, wie es auch geschieht.

Meine Motivation diese Reise anzutreten, war die von uns sehr unterstützte Schule. Auch hier musste ich mich von einigen Illusionen verabschieden und der Realität stellen. Der Abschluss der Mädchen in der Secondary School befähigt sie eine Ausbildung zu beginnen. Nur wie und wo? Alle wohnen in den „Villages“. Die beiden größten Städte in Malawi – Lilongwe und Blantyre – sind unerreichbar. Wie auch ohne öffentlichen Nahverkehr, ohne Züge und selbstverständlich ohne Autos? Uns wird in dieser Woche klar, dass nur ein Bruchteil der Absolventinnen eine Ausbildung antreten wird. Also alles umsonst? Auf keinen Fall! Ein Mädchen mit einem guten Schulabschluss, mit der Fähigkeit zu lesen und zu schreiben, wird – hoffentlich – einem Mann selbstbewusster entgegentreten, eigene Bedürfnisse formulieren können und verstehen, dass es grundlegend wichtig ist, eine vernünftige Familienplanung zu machen. Außerdem haben wir mit dem Schulleiter über das Schulfach „Permakultur“ gesprochen. In den Dörfern ist nun mal „farming“, also Landwirtschaft, die nahezu einzige Einnahmequelle. Die Mädchen lernen in der Schule, den Boden optimal zu bestellen, unterschiedliches Gemüse anzubauen, was zu einer besseren Ernährung führt, und vielleicht mehr einbringt.

So gehen wir Schritt für Schritt voran, getragen von der Hoffnung für die herzlichen Menschen hier ein wenig mehr Zukunftsperspektive gemeinsam zu entwickeln.

Mittags fahren wir nach Lilongwe, um an nächsten Abend zurück nach Deutschland und Schweden zu fliegen. Wieder erhärtet sich in mir die Überzeugung, dass die Autofahrt in die Hauptstadt der gefährlichste Teil der langen Reise ist.

Dort bleiben wir für eine Nacht im schönen „Africa House“. Obwohl kaum Gäste da sind, ist die Zimmeraufteilung nicht klar, die Handtücher fehlen und auf das abendliche Essen warten wir fast neunzig Minuten. Der Lärm der wenigen Angestellten ist nicht zu überhören.

Auch das ist Afrika!