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Vera Klischan: „Nachhilfe“ für eine Schule in Afrika 

Vera Klischan: „Nachhilfe“ für eine Schule in Afrika 

Sie reist in Kürze nach Afrika, nicht etwa um dort Urlaub zu machen. 
Die pensionierte frühere Schulleiterin der Gorch-Fock-Schule engagiert sich ehrenamtlich mit ihrer Expertise in der Beratung der Schulleitung  in der Stadt Polokwane in der Republik Südafrika.
Wie es zu dem „Auftrag“ kam  und was sie vor Ort erwartet,  berichtet Vera Klischan im Podcast im Gespräch mit Moderator Peter Franz.
Während Ihrer Reise vom 13.- 31. Oktober 2025 meldet sich Vera Klischan mit aktuellen Erlebnissen 
in einem Tagebuch-Blog auf 
Blankenese.de

Der Blog von Vera Klischan


14. Oktober 2025

Müde, müde, müde… ich sitze in Johannesburg am Flughafen nach einer durchwachten Nacht im Flugzeug. Erst in fünf Stunden geht mein Weiterflug nach Polokwane, wo meine Aufgabe beginnt. Schulberatung in der Paxana Primary School im Auftrag des Senior Expert Service. Warum mache ich das eigentlich? Viele haben mich gefragt: „Warum machst du das eigentlich?“ Den Subtext „in deinem Alter“ höre ich deutlich heraus. Berechtigte Frage!

24 Stunden dauert die Reise in ein „blind date“ mit einer Schule, die ich nicht kenne. Strom? Wasser? Alles Glücksache! Das haben mich meine Reisen nach Uganda und Malawi gelehrt. Also – warum? Vielleicht, weil die weite Landschaft mit der roten Erde mich immer wieder bezaubert, weil es herrlich ist, im „Village“ und im Busch so nah an der Natur zu sein. Bananenstauden, Mangobäume, die überschießende Fülle an Obst, das wir teuer kaufen müssen, vielleicht auch, weil die ländliche Umgebung zur Ruhe zwingt, kein Fernseher, kein Auto, nicht mal ein Fahrrad. Man muss sich schon beschäftigen können.

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Ganz bestimmt aber wegen der Menschen, die sich jedes Mal so sehr freuen, wenn wir aus „German“ kommen, wegen der Kinder, die mit fast nichts fröhlich spielen, aufeinander schauen
und die weiße Frau bestaunen.

Das lässt mich die Momente vergessen, in denen mich die Unpünktlichkeit auf die Palme bringt, Verabredungen nicht eingehalten werden oder wenn ich – wie gerade eben – eine halbe Stunde auf ein Croissant warten muss.

Aber das Flugzeug bringt mich in nur 35 Minuten nach Polokwane, wo die Schulleiterin und ein Ordensbruder auf mich warten. Die Schule wird von der Kongregation der „Brothers of Charity“ getragen. Die Herren haben ganz offensichtlich viel zu sagen.



15. Oktober

Ich bin in Südafrika! Das wird mir spätestens nach dem Schulrundgang mit der sehr resoluten Schulleiterin klar. Diese Schule hat sehr wenig mit den Schulen in Uganda und Malawi, die ich besucht habe, zu tun. Die Schulgebäude sind modern und kindgerecht möbliert. Die Schuluniformen tipptop. In jeder Klasse hängt ein Smartboard.

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Ganz schön fortschrittlich!

Der passende Laptop ist in fast jeder Lehrerhand. Die Schulleiterin residiert in einem eigenen Verwaltungstrakt mit ihrem vierköpfigen Schulleitungsteam mit einem sehr aufgeräumten Büro. Computer, Klimaanlage – alles vorhanden.

Ich staune nicht schlecht, denn es ist eine öffentliche Schule. Die Schulleiterin, „Principal Semenya“, erklärt mir in kurzen Worten, dass sie die Eltern zur Kasse bittet, wenn etwas fehlt. Das kann ich mir sehr gut vorstellen.

Beim Gang durch die Klassen wird mir die Durchsetzungskraft dieser beherzten Dame sehr deutlich. Fehlende Landkarte an der Wand, unsauberer Fußboden, ungünstige Sitzordnung – mit Adlerblick erfasst sie blitzschnell die Klassensituation und scheut sich nicht, die entsprechende Lehrkraft mit deutlicher Verbalkraft zu konfrontieren.  Auch vor den Kindern macht sie nicht Halt. Der falsche Haarschnitt – zu modisch oder zu lang – wird sofort vor der Klasse moniert und sehr deutlich eine Korrektur gefordert.
Um 12 Uhr schnellen die Schüler und Schülerinnen von ihrem Sitzen hoch. Das Angelusläuten hat sie geradezu elektrisiert und sie beten fast automatisiert gemeinsam drei „Gegrüßet seist Du, Maria“. 
Wenn jemand eine gute Antwort gibt, geht ein ähnlicher Mechanismus los. Rhythmisches Klatschen und aus allen Kehlen der Ruf „You are awesome“. Der so gelobte freut sich sichtlich über diese kollektive Huldigung. Das mag man kritisieren. Das verstehe ich. Trotzdem hatte ich heute das Gefühl, dass die klaren Worte der Schulleiterin eine ebenso klare Orientierung geben, einen festen Rahmen, in dem Kinder und Lehrer sich sicher bewegen können. Ich konnte das sehr forsche Handeln der Schulleiterin in ein großes Engagement für ihre Schule und  für jedes einzelne Kind einordnen. Auch das prompte Lob der gesamten Klasse zauberte den Betreffenden rote Wangen vor Stolz ins Gesicht. So musste ich meine Haltung ein wenig nachdenklich in Frage stellen.  

Am Nachmittag habe ich einen Gang gemacht in Begleitung einer 26-jährigen Nonne. Ich musste mich bewegen nach der langen Reise. Allein durfte ich nicht losgehen. So wurde die junge Frau verdonnert, mich zu begleiten. Die Arme war nach dem sehr moderaten Gang vollkommen erledigt. Ein Spaziergang scheint in dieser Gegend eine geradezu verdächtig ausgefallene Beschäftigung zu sein. Eine Gefahr habe ich übrigens nicht wahrgenommen.

Morgen ist Gottesdienst. Dafür wurde schon den ganzen Nachmittag geprobt.


16. Oktober

16.10.2025: Der Gottesdienst! Ganz sicher der Höhepunkt der Woche. Seit dem sehr frühen Morgen wurde der große Unterstand auf dem Schulgelände mit Unmengen von Stühlen bestückt und ein Altar erster Klasse aufgebaut. Ich werde sofort zu einem der wenigen gepolsterten Stühle geleitet. Die Ankunft der Klassen mit ihren Lehrkräften wird vom unermüdlichen Schülerchor begleitet, der in Dauerschleife Hallelujah singt. 

Irgendwann geht eine nervöse Betriebsamkeit durch die Menge. Der „Father“ ist da. Der Priester, der die Messe liest. Er zieht flankiert von drei Messdienern ein. Ein traditioneller katholischer Gottesdienst beginnt. Und ist doch anders!
Wie schon in Uganda erlebe ich eine ungeheure Fröhlichkeit durch den Chorgesang, der mitreißend die kirchlichen Lieder in der lokalen Landessprache singt, begleitet von Trommeln und Rasseln. Es dauert nicht lange, da tanzen alle am Platz, klatschen, schwingen die Arme und verbreiten eine Riesenstimmung. Spätestens jetzt weiß, dass Gottesdienst etwas ganz anderes bedeutet als bei uns, nämlich laute Musik, Bewegung und Mordsstimmung.  Dabei bin ich sicher, dass alle jederzeit wissen, dass sie sich in einer Kirche befinden.
Es gibt ein großes Wort hier: Respekt. Von den Kindern den Lehrern gegenüber, von allem dem „Kirchenpersonal“ gegenüber, aber auch Situationen wie dem Gottesdienst. Keiner redet, keiner ärgert den Nachbarn, jeder betet mit.
Ist das nicht auch ein wenig bedenklich, wenn die Kirche die Kinder dermaßen im Griff hat? Ja, das kann man so sehen. Vielleicht bleibt mir genug Zeit, um festzustellen, ob es auch Raum für Zweifel und Auseinandersetzung mit ihrem Glauben für die Kinder und Jugendlichen geben darf. Ob aus Respekt nicht irgendwann Gehorsam wird, der Fragen nicht mehr erlaubt. Heute habe ich die respektvolle Haltung sehr positiv erlebt. Ich wurde sogar vor den Altar geholt, um „our sister“ zu begrüßen. Ist uns da etwas verlorengegangen…?

Nach den paar Tagen hier in der Schule erlebe ich Kinder, die offen auf mich zukommen, staunen über jemanden, der ganz anders aussieht und Kinder, die auf ihrem Riesengelände ausgelassen spielen.


17./18. Oktober

Drei Gottesdienste in fünf Tagen, das ist auch für einen kirchennahen Menschen ein guter Schnitt. Die katholische Kirche dominiert das Leben hier.
Es ist Zeit Precious Ale vorzustellen, die mich im Rahmen der Organisation hierher begleitet. Sie stammt aus Hamburg und ist 26 Jahre alt. Ihre Eltern stammen aus Nigeria. Sie hat Sozialwissenschaften studiert und ist auf Jobsuche, was ihr Freiraum für diese Reise bietet. Das Projekt „Team Works!“, das junge Fachkräfte zur Hospitation nach Afrika schicke, ermöglicht Precious diese Reise mit mir. Für mich ist es ein Gewinn, dieses Land und die Menschen nicht nur durch meine „weißen“ Augen zu sehen. Obwohl Precious in Hamburg aufgewachsen ist, hat sie als schwarze Frau viel mehr Zugang zur hiesigen Kultur und wird auch von den Menschen hier völlig anders wahrgenommen.
Vielleicht ist es für mich hier einfacher. Meine Rolle ist klar definiert. Ich bin eine deutsche ehemalige Schulleiterin, die als externe Beraterin eingeladen wurde. Precious hingegen bewegt sich zwischen den beiden Welten. Für mich ist das ungeheuer wertvoll, da sie mir dadurch noch andere Perspektiven eröffnet.

So erleben wir beide hier alles gemeinsam, auch die Wochenendgestaltung, die sich schon Freitag anbahnte. Die Schulleiterin verließ mitten am Vormittag ihren Arbeitsplatz, um mit uns in die Stadt zum Mittagessen zu fahren. Völlig unverständlich, da die gemeinsame Arbeitszeit kostbar ist. In halsbrecherischer Fahrt ging es nach Polokwane, das etwa 30 km entfernt ist. Zuvor mussten wir aber noch ihr Haus bewundern, das sie mit alter Mutter und Kindern bewohnt. Meine Hochachtung vor ihr wächst. Was sie alles stemmt – große Schule, alte Mutter, halbwüchsige Kinder ohne anwesenden Vater – ist enorm. Dazu jeden Tag 60 Kilometer Schulweg.

Sie führte uns in die größte Einkaufsmall, die die Stadt zu bieten hat. Irritiert ließen wir Geschäft für Geschäft auf uns wirken, bis wir schließlich in einem Restaurant landeten, um dort Burger und Pommes zu uns zu nehmen.

Am Samstag wiederholte sich das Ganze nur mit anderer Besetzung. Drei Nonnen fuhren uns ähnlich zügig über die gefährliche Landstraße nach Polokwane. Dieses Mal in ein anderes Einkaufscenter. Wieder Geschäfte und Lunch. Die Burger wurden durch Hähnchen ersetzt. Den Pommes blieben wir treu. Ich habe mich gefragt, warum sie uns dieses Programm bieten, das wir originalgetreu auch zu Hause erleben können. Dieses Land bietet so unendlich viel an Kultur, Natur und Schönheit. Das ist das Pfund, mit dem sie wuchern können und vor allem uns beeindrucken. Werden Burger und Pommes vielleicht als Symbol für Globalisierung an Anschluss an die westliche Welt empfunden? Vielleicht wollten sie uns aber nur das vertraute Essen gönnen. Unsere Frage nach afrikanischen Märkten mit lokalem Schmuck und Kleidung wurde mit wenig Verständnis aufgenommen. Ja, natürlich gibt es das, aber viel zu voll und laut für uns. Nun ja, eigentlich ist es genau das, was ich mir wünsche. Neben meinem Schulauftrag bin ich hier, um viel von den Menschen zu erfahren, was ihr Leben ausmacht, wie die quirlige afrikanische Stadt tickt.

Die Frage, ob die eigene authentische Kultur verdrängt wird, kann ich nach den wenigen Tagen trotz dieser Erlebnisse mit nein beantworten.

Die Sprache im Unterricht ist Sepedi, die lokale Sprache der Provinz Limpopo. Das habe ich in Uganda anders erlebt. Dort wurde eisern bereits in der Vorschule englisch gesprochen. Hier herrscht überall die lokale Sprache, obwohl auch englisch intensiv gelehrt wird. Im Gottesdienst erklingen die afrikanischen Gesänge mit den traditionellen Trommeln und Rasseln. Viele Mädchen haben sehr kreative afrikanische Frisuren. Hier ist die eigene Kultur sehr präsent und lebendig.


19. Oktober

Der heutige Sonntag begann selbstverständlich mit dem Gottesdienst um 10 Uhr, nur war ich die Einzige, die um diese Uhrzeit in der Kirche saß. Warum habe ich immer noch nicht gelernt, dass die verabredeten Zeiten in Afrika Auslegungssache sind?
Auch dieser Gottesdienst war geprägt vom disziplinierten Benehmen neben bester Stimmung, erzeugt durch den Chor und die begleitende Trommelgruppe. Alle Schüler in Schuluniform, viele mit Krawatte, die es bei uns kaum noch in die Elbphilharmonie schafft.

Nun liegt der Rest des Sonntags vor mir. Viel Zeit – dachte ich. Falsch gedacht! Denn nach dem Mittagessen schlägt der Priester, der die Messe gelesen hat, Precious und mir einen Ausflug vor.  Da uns die Malls noch vor Augen stehen, sind wir etwas zurückhaltend. Er verspricht Natur. Und er hält sein Wort. Wir fahren Richtung Krüger Nationalpark nach Haenertsburg und weiter zum Ebenezer Damm. Eine wunderbare Landschaft tut sich vor uns auf. Leicht bergig stellte die Gegend sich uns als eine gelungene Mischung aus Bayern und Schwarzwald dar. Weiter ging es zum Ebenezer Damm. Staunend und begeistert von so viel herrlicher Natur standen wir hoch über dem großen Staudamm, an dessen Ufer Segelboote vor sich hindümpelten. Der Priester erzählte uns, dass es sich um eine Freizeitregion für Schwarze und Weiße handelt, die hier in friedlicher Nachbarschaft in schönsten Häusern am Ufer den Urlaub verbringen. Endlich hatten wir die Natur, die uns bisher gefehlt hat. Endlich offenbarte sich die Schönheit dieses Landes ein wenig. Wir wissen, dass auch die Shoppingausflüge uns zu Ehren veranstaltet wurden. Nur waren sie so gar nicht das, was ich hier suche.

Erfüllt von den herrlichen Landschaftsbildern traten wir den Heimweg an, der uns wieder in die afrikanische Realität katapultierte. Müll, Müll, Müll – die Schnellstraße zwischen Polokwane und unserer Schule ist auf beiden Seiten von Müll übersät. Warum gehen diese Menschen so mit ihrer schönen Umgebung um? Bevor ich mein Urteil fälle, frage ich mich, ob auch in den Villages jede Woche die Müllentsorgung vorfährt wie bei uns. Wieder einmal wird mir bewusst, wie wichtig es ist, meinen gewohnten Standard nicht vorschnell auf andere Lebensrealitäten zu übertragen.


20. Oktober

Start in die neue Schulwoche nach einem Jahrhundertgewitter in der Nacht! Mein Auftrag ist Beratung der Schulleitung. So wurde es gewünscht. Bis jetzt hat noch nichts dergleichen stattgefunden. Wild entschlossen das Thema anzusprechen mache ich mich auf den Weg zur Schulleiterin. Sie wirkt recht erstaunt, als hätte sie nicht seit Monaten gewusst, dass ich komme. Vielleicht schon mal ein Plan? Fehlanzeige! Das Thema scheint komplett neu für sie. Spätestens jetzt weiß ich, dass ich in Afrika bin. Das heißt nicht, dass hier nichts klappt. Es fehlt nur sehr oft der deutsche Planungsvorlauf. Mit viel Fingerspitzengefühl versuche ich herauszufinden, wo die Baustellen sind. Gibt es überhaupt welche?

Plötzlich werde ich mit einer Idee konfrontiert. Motivation des Schulleiterteams und des gesamten Kollegiums. Für mich hätten wir ruhig etwas tiefer einsteigen können. Aber nun liegt endlich etwas auf dem Tisch. Um meine spontan erzeugte Wichtigkeit zu verdeutlichen bekomme ich ein Büro zugewiesen. Das ist ein explosionsartiger Karrieresprung.  Ich beziehe das Büro mit meinem Laptop und dem neuen Auftrag im Kopf. Die Konferenz mit dem Leitungsteam soll am Donnerstag stattfinden. Nun habe ich drei Tage Zeit für die Vorbereitung. Wenn da nichts draus wird…..

Nach etwa zwei Stunden steht mein Konzept. Noch gute zwei Tage übrig. Ein Lehrer kommt in mein Büro mit einem Riesenstapel Urkunden. Das sind „Awards“, die pro Term, also dreimal im Jahr ausgegeben werden für die besten Schüler und Schülerinnen. Meine vorsichtig formulierte Frage, ob dann nicht weitgehend immer die gleichen Kinder einen Award bekommen, wird weggemurmelt. Ich, die ein Büro, aber keine Arbeit hat, stürze mich auf die Awardflut und beginne zu laminieren. Herrlich, ohne nachzudenken schiebe ich Folie für Folie in den Apparat. 100%ige Erfolgsquote, als irgendwann sämtliche Ehrungen laminiert auf meinem neuen Schreibtisch liegen.

Am Nachmittag muss ich mich bewegen. Also verlasse ich das Schulgelände, um am Rand des Busches, aber immer in Sehkontakt zur Schule zu laufen. Nachdem mich drei Personen, die von der Schule kommen, auf die Gefährlichkeit des Weges angesprochen haben und ein düsteres Szenario entwerfen, falls ich weitergehen sollte, kehre ich resigniert um. Was soll mir geschehen? „Bad people from Simbabwe“ – das höre ich hier nicht zum ersten Mal.  Diese Leute stellen offensichtlich das Synonym für Entführung, Erpressung, Überfälle jeglicher Art dar. Ich habe auf meinem fast menschenleeren Weg niemanden entdecken können, der in diese kriminelle Kategorie fällt. Aber als Neuling höre ich natürlich auf diese Warnungen und trete den Rückweg an. Als Ausgleich gehe ich fünf Runden auf dem Sportplatz.

Die auf ihren Bus wartenden Kinder winken mir in der ersten Runde noch begeistert zu. Das weicht aber recht schnell dem blanken Erstaunen, dass jemand über den Sportplatz spaziert – und das Runde für Runde.


21. Oktober

Heute werden die von mir laminierten Awards ausgegeben. Schon vor 8 Uhr drängen sich alle Kinder der Primary School unter dem Unterstand in gespannter Erwartung. Wieder einmal bin ich beeindruckt, wie lang diese Kinder dicht gedrängt nebeneinander stehen ohne nennenswerte Störvorfälle. Ich weiß, dass es bei uns anders aussähe. Endlich geht es los. Ich werde auf die Bühne gebeten, um die Awards mit einem anerkennenden Händeschütteln zu übergeben. Ich kann es kaum glauben, aber die ersten, die ich so ehren darf, sind die kleinen Vorschüler. Wäre es in dem Alter nicht besser, noch jegliche Art von Leistungsbereitschaft zu honorieren und nicht gleich eine solche Selektion vorzunehmen. Vielleicht finde ich einen Ansatz mit der Schulleiterin darüber zu sprechen.

Ich schüttele viele Hände, übergebe reihenweise Urkunden und bin auf unzähligen Fotos. Über eine Stunde stehen all diese Kinder und schauen den wenigen zu, die geehrt werden. Bei mir hinterlässt diese Veranstaltung ambivalente Gefühle. Beeindruckt von der hohen Disziplin der Kinder frage ich mich gleichzeitig, ob die Verleihung eines solchen Awards altersadäquat für die Vorschüler und Erstklässler ist. In dem jungen Alter sollte es vornehmlich um Entwicklung individueller Stärken gehen, um Ausprägung sozialer Kompetenzen und nicht nur um messbare Leistung. Welche Wirkung mag es auf die vielen Kinder haben, so lange den Ehrungen zuzuschauen, die sie für sich nicht beanspruchen können? Vielleicht kann ich irgendwann in diesen Tagen noch den Vorschlag machen, einen Award für soziales Engagement und sportliche Leistungen und Fairplay einzuführen, um so Anerkennung breiter aufzustellen.

Danach beziehe ich wieder mein Büro. Kurze Zeit später wünscht die Schulleiterin eine Einführung in chatgpt. Precious und ich eröffnen ihr in den folgenden Stunden eine neue Welt der ökonomischen Arbeitsgestaltung. Trotz aller Begeisterung schaut sie uns beide plötzlich fragend an mit den Worten:“It is twelve o’clock.“ Ich denke natürlich sofort an Essen. Aber nein, darauf muss ich noch eine Stunde warten. Nicht die profane Nahrungsaufnahme ist gemeint, sondern das Angelusgebet. Sie versinkt auf ihrem Stuhl in ein kurzes intensives stilles Gebet. Ich fühle mich 60 Jahre zurückversetzt in meine Schulzeit auf einem katholischen Gymnasium. Auch dort war dieses Gebet obligatorisch, aber seitdem tief vergraben in meinen Erinnerungen. Mein erster Gedanke: Welch traditionelle Haltung herrscht hier noch. Andererseits – was spricht eigentlich dagegen einmal in der Arbeit kurz innezuhalten, sich zu sammeln, tief durchzuatmen? Ob das mit einem Gebet, einer kurzen Mediation oder einer sportlichen Übung am Platz geschieht, spielt keine Rolle.

Am Nachmittag machen Precious und ich einen wunderbaren Gang zum ausgetrockneten Fluss. Da wir uns im Schutz von Brother Marc aus Belgien befinden, dürfen wir das Schulgelände verlassen. Es eröffnet sich uns eine traumhaft schöne Landschaft mit sehr besonderen Pflanzen und Baumformationen, die wir aus Deutschland nicht kennen. Der Fluss hat enorme Felsformationen frei gelegt, über die wir klettern, um den Heimweg in die Schule anzutreten. Endlich mal „vor die Tür“ – die mangelnde Bewegung macht mir sehr zu schaffen. Niemand versteht das hier. Man sieht auch nirgendwo Spaziergänger. Am Wetter liegt es nicht, denn es ist seit Tagen kühl und windig.


23. Oktober

Und wieder sitze ich in meinem Büro. Heute soll das Meeting mit dem Schulleiterteam stattfinden, dass ich seit Montag vorbereite. Ich bin sehr gespannt, ob unsere Art der Diskussion hier klappt. Karten mit Fragen sind vorbereitet vorbereitet, Karten, die ich mit dem Team besprechen möchte. Ich glaube, dass solche Reflexionen über die eigene Arbeit hier nicht üblich sind. Das heißt nicht, dass die Lehrer und Lehrerinnen stumpf vor sich hinarbeiten. Mein Eindruck, den ich aus früheren Aufenthalten speise, ist, dass das Curriculum feststeht, welches von allen schnurgerade abgewickelt wird. Es lässt wenig Raum für Diskussionen im Klassenraum, für kritische Auseinandersetzung. Der Unterricht läuft rein frontal ab. Die Kinder wiederholen das Erlernte und schreiben ab. Wo ist der problemorientierte Ansatz, der zum Denken und Auseinandersetzen anregt, wo ist das Suchen nach Lösungen?
Aber habe ich nicht gut reden mit nur 20-24 Kindern in einer Klasse in Deutschland und oft noch einer doppelten Besetzung?  Hier sprechen wir über 55 – 60 Kinder in einem Klassenraum. Wie gut, dass den Kindern hier Schlüsselkompetenzen wie Lesen, Schreiben, Zahlenverständnis vermittelt werden! Wieder einmal darf ich meinen Maßstab nicht übertragen.

Die Pause gibt ein eindrucksvolles Beispiel der hohen Sozialkompetenz der Schüler wieder. Auf einem wirklich kleinen Schulhof (erstaunlich bei dem riesengroßen Gelände) spielen die Kinder mit nichts. Kreativ, fröhlich und vor allem miteinander. Fangen, Verstecken, Kreisspiele – ich kann nur sagen „Wie früher“.

In der allabendlichen Gesprächsrunde gestern kam die Kehrseite des guten Verhaltens zur Sprache. Drei Mönche, deren Kongregation die Schule hier betreibt, berichteten von den Schülern der High School. Die reine Jungenschule ist auch auf dem Gelände angesiedelt, von Jahrgang 8 bis 12. Auch die Betreuer sind alle männlich und dem Kloster zugehörig.

Die Jungen, die sich im schwierigen Alter der Pubertät, des Erwachsenwerdens befinden, haben so gut wie keinen weiblichen Kontakt. Ihre Ansprechpartner sind Menschen ohne Familie, die zum Teil schon mit 15 Jahren dem Kloster beigetreten sind. Die Frage muss erlaubt sein, in wieweit sie eine Lebensrealität abbilden, in die die Jungen hineinwachsen. Es gibt keinen Kontakt mit Mädchen. Die so wichtige Kontaktaufnahme für einen unverkrampften Umgang mit Mädchen und später erwachsenen Frauen muss frühzeitig erlernt werden, ebenso wie die Sammlung erster Erfahrungen. All das erleben die Jungen kaum, da die meisten hier im Internat sind. Als die „Brothers“ von der Zerstörungswut der Jungen berichteten, konnte ich das natürlich nicht gut finden, aber eine Einordnung in dieses wirklichkeitsfremde Leben liegt auf der Hand. Irgendwo müssen sie die überschießenden Gefühle und Irritationen auslassen. Warum nicht an der Regenrinne, die heruntergerissen wird?

Heute Nachmittag wird es wieder einen Ausflug mit dem schuleigenen Priester geben, der uns seine „Farm“ zeigen will. Wir wissen das sehr zu schätzen, ist doch jedes Ausbrechen aus der Schule hoch erwünscht.


24. Oktober

Priester Jimmy wird immer mehr zur Schlüsselfigur in der Annäherung an dieses wunderbare Land. Bevor ich von zwei herrlichen Ausflügen mit ihm erzähle, muss ich von meinen ganz persönlichen „Waterloo“ mit der Schulleitungsgruppe erzählen. Mein Auftrag lautete, eine Runde mit den fünf Mitgliedern der Schulleitung zu gestalten. Thema – nicht ganz klar. Irgendetwas in Richtung Motivation. Die Vorbereitungszeit war lang genug. So saß ich hoffnungsvoll im „Bord Room“. Statt der fünf angesagten kamen nur vier, der einzige männliche Teilnehmer fragte beim Betreten wie lange „das denn hier dauert“. So in etwa ging es weiter. Meine vorbereitete Kartenabfrage wurde unlustig bis gar nicht beantwortet. Meine Gesprächsimpulse standen schwer im Raum ohne nennenswerte Resonanz. Ideen, wie die Arbeit und die gegenseitige Unterstützung verbessert werden könnten, wurden schlicht verweigert. Als mir irgendwann das Pulver meiner Anregungen ausging, habe ich nervlich entkräftet die Veranstaltung geschlossen. Was war da schiefgelaufen? Schlecht vorbereitet, falsche Gesprächsanreize? Rückblickend vermute ich, dass die geringe Beteiligung der Teilnehmer weniger an meiner Vorbereitung lag, sondern an einer fehlenden etablierten Kultur der gemeinsamen Reflexion und Selbstkritik. Teamprozesse oder Synergieeffekte scheinen bislang nicht Teil des Arbeitsverständnisses zu sein.

Das heißt nicht, dass hier ein unmotiviertes Kollegium lustlos und unengagiert seine Arbeit macht. Aber sie folgen in ihren Arbeitsbüchern einem streng vorgegeben Pfad. Die Schüler werden mit viel Wissen betankt, sie lernen lesen und schreiben, zum Teil schneller als bei uns. Aber der Diskurs, die Präsentation eigener Ergebnisse, Gruppenarbeit, Lösungssuche – das habe ich hier nicht erlebt. Und ebensowenig bei der Lehrerschaft! Und trotzdem – vielleicht bleibt ein wenig hängen. Manchmal wirken Dinge zeitverzögert. Warum nicht auch dieses Treffen?

An diese ernüchternde Veranstaltung schloss sich ein großes Highlight an. Priester Jimmy holte Precious, Brother Marc (aus Belgien) und mich ab und zeigte uns sein Zuhause – die Motse Maria School, eine reine Mädchenschule. Ein unglaublich schönes Anwesen, so kann man ruhig sagen. Gepflegt, geschmackvoll und liebevoll bepflanzt. Die Mädchen wohnen in einzelnen kreisrunden Häuschen, ein wenig so, wie man sich Afrika im Bilderbuch vorstellt. Als wir über das Schulgelände gegangen sind, ertönte ein lautes Kreischen der Mädels. Ganz offensichtlich versetzte unser Besuch die halbwüchsige Mädchenschar in helle Aufregung. Alle wollten mich anfassen. Einige fragten, ob sie meine Haare anfassen dürfen. Nachdem wir uns durch die ausgelassene Menge gekämpft hatten, starteten wir mit unserem Priester als Führer einen unvergleichlich schönen Gang durch den Busch.

Wir waren von unendlicher Weite umgeben, von Stille, die einem fast nirgendwo mehr begegnet und wurden am Ende von einem Sonnenuntergang beschenkt, der mir lange in Erinnerung bleiben wird. Als wir uns einer Löwenfarm näherten, hörten wir lautes Löwengebrüll. Wenigstens gehört haben wir die Könige der Tierwelt.

Wieder einmal wurde mir bewusst, wie einzigartig das Licht Afrikas ist. Wenn die Dämmerung über den Busch zieht und die rote Erde im goldenen Glanz leuchtet, scheint alles stillzustehen. Spätestens dann, egal was mich zuvor geärgert hat, schlägt mein Herz für Afrika – und für seine unvergleichliche Natur.


25. Oktober

Mal wieder unser unermüdlicher Priester! Er schlug uns – Precious und mir – eine Tour ins Gebirge vor. Seine Begeisterung ist dermaßen ansteckend, dass wir die Berge schon vor uns sahen. Gefragt nach der Entfernung gab es höchst unkonkretes Gemurmel „not so far“. Das löste in mir schon Misstrauen aus. Als er mit seinem uralten Pickup vorfuhr, war klar – das gibt eine Tour größeren Ausmaßes. Grund waren die Riesensäcke Hühnerfutter, die sich auf der offenen Ladefläche geradezu provozierend stapelten. Irgendwann entlockten wir ihm das wahre Ziel unserer Reise. Seine Mutter, die kurz vor der Grenze zu Botswana lebt und Hühnerfutter braucht! Es war zu spät. Wir mussten die Sache durchziehen. Nachdem wir die Hauptstraße verlassen hatten, ging es im atemberaubenden Tempo über eine Schotterpiste. Wir zwei vorn gequetscht neben unserem wilden Fahrer, Rückbank – negativ. Gurte – völlig überschätzt.

Nach mindestens 1 ½ Stunden Fahrt über Stock und Stein mit der uralten Priesterkiste kamen wir endlich in Bergendal an.

Viele Namen zeugen hier noch von der kolonialen Vergangenheit durch die Niederländer. Die Fahrt in dieses entlegene Dörfchen führte uns in die Nähe des Blouberg Mountain. Die Berge leuchten tatsächlich in einem bestimmten Licht blau. Zumindest nahmen wir das so wahr, als Father Jimmy uns mit endloser Begeisterung die Berge zeigt, an deren Fuß er aufgewachsen ist. Immer wieder rührt mich diese tiefe Liebe zu seinem Land. Seine Mutter ist eine sehr beherzte Dame von 60 Jahren, die uns stolz ihre große Hühnerfamilie zeigt. Wir stolzieren durch mindestens 90 Tiere, die in einem großen, sauberen Stall residieren.

VK. Bergendal03

neben Gemüseanbau. Wie hart muss diese tapfere Dame arbeiten, die allein in ihrem Häuschen lebt? Trotzdem drängen wir zum Aufbruch im Wissen, was vor uns liegt. Schotter über Schotter und die nahende Dunkelheit. Zurück geht es in rasender Fahrt über Schotter und durch Schlaglöcher. Ab und zu bremst Jimmy abrupt, um einige am Straßenrand stehende Menschen hinten auf seinen Pickup zu laden. Im Heimatdorf entlädt er seine menschliche Fracht. Das ist Fürsorge. Es wird dunkler und wir immer leiser. Ich kralle mich am Sitz fest und bitte um Verlangsamung, was im Schottergedröhn ungehört verhallt. Scheinwerfer, die uns auf unserer Fahrbahn entgegenkommen, eine Kuh auf der Fahrbahn – all das lässt mich Stoßgebete im Sekundentakt nach oben schicken. Endlich erreichen wir die „tar road“ – die Teerstraße, was keinesfalls eine Verbesserung herstellt. Denn jetzt geht es noch schneller durch die schwarze afrikanische Nacht. Endlich erscheint das Schild „Paxana Primary School“. Der Priester steigt entspannt und lachend aus dem Auto. Aufregend – warum. War doch ganz einfach. Es war auf jeden Fall ein Tag, den ich nicht so schnell vergessen werde. Father hat uns ein Stück seiner Heimat gezeigt, das wir ohne ihn niemals gesehen hätten

Da. Wir sind durch den Busch gefahren auf menschenleeren Straßen mit dem Blick auf die blauen Blouberg Mountains. Wir sind durch dichtes Gestrüpp auf eine Berganhöhe gestiegen, nur um von oben einen Blick auf die unvergleichlich schöne Landschaft zu werfen. Neben manchen gefühlten Herzstillständen verdanken wir unserem Prieser einen unvergesslichen Ausflug.


26. Oktober

Gestern – Samstag. Wir fahren in die Stadt. Nachdem ich eine Woche lang erfolglos versucht habe, der Schulleiterin einen Plan für meinen Einsatz zu entlocken, planen wir für heute eine Art Wellnesstag. Begleitet von Seipeti, der 26-jährigen Sekretärin, starten wir Richtung Polokwane. Wieder einmal begreife ich, wie komfortabel unser Leben in Deutschland ist. Wir gehen zuerst etwa einen Kilometer bis zur großen Durchgangsstraße, um dort auf ein Sammeltaxi zu warten, das nach dem Modell Moia arbeitet. Personen werden aufgenommen und wieder herausgesetzt. Voraussetzung ist die gleiche Richtung. Nach einer halben Stunde konnten wir uns ins übervolle Bustaxi quetschen, das uns in die Stadt brachte. Dort wechselten wir in ein anderes Taxi – um wieder in einer Mall zu landen. Stolz führte unsere Begleiterin uns zu Wimpy, um dort zu frühstücken. Nun ja, ich war den Charme der Malls ja schon gewöhnt. Während wir unseren Capucchino tranken, kam ich auf die Taxifahrt zurück. Seipeti versicherte mir wie schon einige zuvor, wie gefährlich eine Taxifahrt ist, wenn man irgendeines nimmt. Sie weiß genau, wo sie einsteigen darf. Raub – nicht nur Geld auch ein Pass ist Gold wert  –  Körperverletzung und Menschenhandel sind die drohenden Gefahren. Südafrika gilt als das gefährlichste Land des Kontinents laut Seipeti und vieler anderer wegen der hohen Flüchtlingszahlen. Nein, nicht die eigenen Landsleute, es sind die anderen. Kommt mir das irgendwie bekannt vor? Sicher gibt es einen wahren Kern.

Nach dem Frühstück begleiten wir Seipeti in einen Friseursalon, wo unzählige Zöpfe geflochten werden. Es ist proppenvoll. Ich verstehe, dass ein Afro sehr viel mehr Arbeit ist als meine glatten Strippen. Beim Zuschauen bewundere ich die ungeheure Fingerfertigkeit der Friseurinnen beim Flechten kleinster Zöpfe in höchster Auflage.

Essenszeit. Wieder ins Taxi und raus aus Polokwane. Wir betreten eine andere Welt – die Bolivia Lodge – eine von der Außenwelt komplett abgeschottete Welt des Wohlstands und der Entspannung zwischen Pool und Drink. Nach einem Walk, der etwa 10 Minuten dauert – ich erinnere an die fehlende Bewegungsfreude – landen wir im Restaurant. Nach der durchaus schlichten Schule ein Auftanken in schöner Umgebung. Die einfachen Gerichte, die wir bestellen, dauern eine gefühlte Ewigkeit. Beim Essen fragten wir Seipeti, die noch nie herausgekommen ist, nach ihrem Sehnsuchtsziel, falls sie reisen könnte. Die prompte Antwort: „Rom“ Die katholische Kirche greift sogar in die Reiseplanung ein.

Der Weg zurück ist ähnlich langwierig wie der Hinweg. Egal – einmal raus und ein kleines bisschen gefühlten Luxus genießen.


27. Oktober: Sonntag!

35 Grad! Kein Programm! Ein langer Tag liegt vor mir.  Der Zwangsaufenthalt innerhalb der schulischen Grenzen schlägt dann besonders zu Buche. Beim morgendlichen Rundgang gerate ich in eine große Elternversammlung, die um 8 Uhr begonnen hat. Ich stelle mir vor, in Deutschland Eltern am Sonntag um 8 Uhr in die Schule einzuladen. Entweder hat die Schule hier einen solch immensen Stellenwert oder die Gefolgschaft ist zu groß zum Verweigern. Ich bleibe und werde Zeuge von ellenlangen Vorträgen der Schulleitung. Irgendwann werde ich wieder vorgestellt. Der Visitor from Germany. Langsam drängt sich mir ein Verdacht auf. Bin ich hier nur eine Art Pausenclown, um die Wichtigkeit der Schulleitung zu demonstrieren? Sogar aus Deutschland kommt man in diese Schule…..

Beim sonntäglichen Mittagessen ist es Zeit für Klartext. Brother Marc aus Belgien und ich sind allein und er packt aus. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit – versteht sich. Jetzt brenne ich erst recht darauf. Mit seinen Worten kratzt er gehörig an der Fassade: So christlich vereint wie es scheint und in Gottes Sinn bestimmt sein soll, ist es keineswegs. Details erspare ich mir… Oh holy boys! Krachend stürzte die christliche Fassade bei Hähnchen und Pommes Frites zusammen. Aber warum soll es auf geistlichem Parkett anders sein als auf weltlichem?

Der Nachmittag vergeht mit Lesen und hier und da kleinen Zufallsgesprächen. Brother Jimmy, dem ich über den Weg laufe, zeigt mir ein Video vom Vortag, als eine schwarze Mamba seinen Weg kreuzte und zwar sehr nah unserem Schulgelände. Seitdem sind meine Augen starr auf den Boden gerichtet. Angeblich greifen die zahlreichen Schlangen hier nicht an. Angeblich….


29. Oktober

Morgen ist mein letzter Tag hier in der Paxana Primary School. Eben habe ich einen kleinen Rundgang in der letzten Abendsonne gemacht. So vieles ist mir in der kurzen Zeit vertraut geworden, aber es gibt immer noch genug Aufreger. Allem voran die Chipstüten, mit denen die Schüler praktisch das gesamte Gelände überzogen haben. Ich schlage nach Blankeneser Modell einen Cleaning Day vor.

Die letzten drei Tage spielten sich vorwiegend in der Schule ab. Das Schuljahr ist hier in sechs Wochen zu Ende und ab Dienstag wurden bereits Abschlussarbeiten geschrieben, die alle hier in erhebliche Aufregung versetzt haben. Das Modell geht so, dass die Arbeiten ab 11.30 Uhr geschrieben werden. In der Zeit davor wird der Stoff wiederholt. Eintrichtern, ausspucken. Daran erinnert es mich ein wenig.  Ich hatte wegen des Examenstrubels auch in den letzten drei Tagen nichts zu tun.

Aber es stand noch die Konferenz heute mit dem gesamten Kollegium an. Nach dem sprachlosen Schulleiterteam habe ich der Veranstaltung keine Chance gegeben. Als mehrfach der Begriff „Präsentation“ fiel, war mir klar, dass keine interaktive Veranstaltung von mir erwartet wurde, vielmehr eine Art Druckbetankung in kurzer Zeit. Darauf habe ich mich gern eingelassen.

Als irgendwann alle eingetroffen waren – ich erinnere: Zeit ist ein äußerst dehnbarer Begriff – legte ich los zum Thema: Raus der Routine – neue Wege! Alle meine Gedanken und Vorschläge mussten sie gebündelt über sich ergehen lassen. Drei zentrale Punkte hatte ich auf Karten festgehalten. Höflicher Applaus zum Schluss. Dann die Wende. Zaghafte Meldungen, dann immer mehr. Das Kollegium kam richtig in Fahrt mit Ideen, Berichten aus der Praxis. Ich hatte das Gefühl, dass alle zum ersten Mal intensiv ins Gespräch kamen. Ich spielte praktisch keine Rolle mehr. Alle meine Befürchtungen und Zuschreibungen musste ich gründlich revidieren. Was davon hängenbleibt und umgesetzt wird, ist eine andere Frage. Aber es war ein erster Schritt, ein Weckruf.

Nahtlos ging es in meine Verabschiedung über. Eine Lehrerin aus dem Leitungsteam hielt eine wirklich rührende Rede auf mich und meine erbrachte Leistung, die mit der Realität kaum etwas zu tun hatte. Leistung wurde mir an äußerst wenig Stellen abverlangt. Das scheint das Kollegium völlig anders zu sehen. Alle beteuerten mir meine Wichtigkeit und dass man mich vermissen würde. Ich glaubte ihnen aufs Wort, fragte mich aber, wie Eindruck und Wirklichkeit derart auseinanderklaffen können. Vielleicht besteht meine eigentliche Leistung in der bloßen Präsenz und im täglichen Aufsuchen meines eigenen Büros. Vielleicht reicht es, wenn jemand – irgendwer – aus Germany kommt und die Schule durch bloße Anwesenheit aufwertet. Nicht im Tun, sondern in Dasein liegt vielleicht die eigentliche Leistung. Zuhören, Interesse ist möglicherweise die Währung, die hier zählt.

Nach der Ehrung gab es ein sehr feines Catering, über das alle das explosionsartig herfielen. Ein herzlicher Abschied.


31. Oktober

Ich sitze am International Airport Polokwane, wo am Tag genau drei Flüge starten – alle nach Johannesburg. International? Viele Erinnerungen begleiten mich. Der Abschied heute Morgen war herzzerreißend.

Aber zurück zum gestrigen Tag. Die Schulleiterin – Madame Semenya – lud Precious und mich auf einen Tagesausflug ein. Info, wohin es geht gleich null. In rasender Fahrt ging es Richtung Polokwane. Unterwegs sammelten wir noch eine Kollegin von der Schule ein. 
Zuerst ging es in eine Art Großmarkt, wo Madame Semenya großflächig eingekauft hat. Dann führte sie uns auf einen afrikanischen Markt, wo es in kleinen Ständen absolut alles zu kaufen gab. Wir kämpften uns durch die lautstarke Menge in mehrere der kleinen Geschäfte. Keine weiße Person weit und breit. Dieses Erlebnis war weit weg von all den Malls, den Wimpys, den feinen Lodges. Die Schulleiterin schüttelte den Kopf über meine Begeisterung, ein Stück pures afrikanisches Leben zu sehen. Hier ist man offensichtlich der Meinung, dass man uns das nicht zumuten kann, dass unsere Welt die der Malls und der weltweit vertretenen Fast Food Tempel ist.

Weiter ging es in ein Game Resort. Dort konnten wir mit dem eigenen Wagen durch den Busch fahren in der Hoffnung, die dort lebenden Tiere zu sehen. Tatsächlich sahen wir Springböcke, Antilopen, Strauße, Zebras und Wasserbüffel. Immerhin! Auch wenn uns die „Big Five“ vorenthalten wurden, war es trotzdem ein Erlebnis, das ich mir die ganze Zeit gewünscht habe. Der Tag blieb afrikanisch durch die Abrundung in einem typisch afrikanischen Restaurant.  Viel Fleisch – Schweinefüße! – viel undefinierbares Gemüse, das nach mutigem Probieren köstlich schmeckte und der unvermeidbare Maisbrei. Endlich! Dieser Tag bleibt – unvergesslich afrikanisch.

Am Abend folgte der Abschied von den Brothers of Charitiy. Nach einer rührenden Ansprache des Oberbruders gab es nach dem Essen für mich eine Schwarzwälder Kirschtorte, die ich sofort anschneiden musste und selbstverständlich auch essen. Eine kulinarische Herausforderung, die mich trotzdem mit Dankbarkeit erfüllte und der ich mich gern stellte.

Heute hieß es Abschied nehmen. Und wie!

Ich wurde für 7.30 Uhr einbestellt. Als ich in dem mir vertrauten Unterstand eintraf, war die gesamte Schülerschaft nebst Kollegium versammelt. Mit lauten Gesängen, Tanzen am Platz wurde mir eine solche Wertschätzung entgegengebracht, die in keinem Verhältnis zu meinem Einsatz hier stand. Wieder einmal verstand ich, wie anders hier meine Leistung bewertet wird. Ich bin „Sister“, bin eine von ihnen geworden und gleichzeitig der hoch geschätzte Besuch aus Deutschland. Durch mein tägliches Interesse, durch viele Gespräche sind sich unsere Welten ein wenig näher gekommen. Dafür hat sich die Reise um die halbe Welt gelohnt. Drei Schüler haben kleine Ansprachen gehalten, ich wurde mit selbst gebastelten Geschenken überschüttet.

Was nehme ich mit? Ganz sicher die unglaubliche Herzlichkeit, die ich hier erleben konnte, die Freundlichkeit, mit der die Menschen sich hier untereinander begegnen. Die Erinnerung an viele abendliche Runden über das weite Schulgelände oft mit einem spektakulären Sonnenuntergang. Ich war in den Blouberg Mountains, stand hoch über Ebenezer Damm, schlug mich mit Father Jimmy durch den Busch, wo ihm einen Tag später die hochgiftige Schwarze Mamba begegnet ist, durfte seine tapfere Mutter besuchen, die Herrin über neunzig Hühner und musste mich jeden Morgen durch hunderte Umarmungen der völlig begeisterten Kinder in „mein“ Büro kämpfen. Allerdings wird mir auch das vernachlässigte Gelände vor Augen stehen, die vielen Internatsjungen zwischen 13 und 18 Jahren, die nach dem Unterricht nichts an sinnvoller Beschäftigung angeboten bekommen, die herumhängen und auf schlechte Ideen kommen, die zum Teil bis abends um 21.30 Uhr lernen müssen bis sie völlig überfordert sind.  Viel Unpünktlichkeit, Unzuverlässigkeit. Aber jeden Tag konnte ich trotz dieser Einschränkungen den gemeinsamen Spirit dieser Schule spüren. Sei es durch die gemeinsamen Gebete, die vielen Rituale, die einheitliche Kleidung, die großartig aussieht, die Lehrerschaft, die sich trotz aller Einschränkungen unglaublich für jedes Kind einsetzt und auch mich herzlich aufgenommen hat.

Warum mache ich das?
Genau deswegen!


Bilder der Schule

1 Kommentar

  1. Uwe Reimer

    In drei Tagen also die Teamsitzung! Good luck! Als Motivatorin bist du ja erprobt.
    HG Uwe

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