10 Jahre Initiative Weltethos – Predigt der Bischöfin Kirsten Fehrs

In der Blankeneser Kirche wurde am 11. September 2023 ein Festgottesdienst gefeiert. Thema war das Projekt Weltethos, das vor 10 Jahren gestartet wurde. Die Feier damals war ein Programmpunkt des Kirchentages – und die Bischöfin war dabei.
Nun hat sie sich erneut auf den Weg nach Blankenese gemacht, gratuliert und die Gemeinde, die Blankeneser ermutigt, auf diesem Weg weiterzumachen.
Wir danken sehr für Ihre Rede, die sie uns zur Verfügung gestellt hat:


Predigt zu Genesis 12,1-4 von Bischöfin Kirsten Fehrs

Der HERR sprach zu Abram: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde! Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich werde segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den werde ich verfluchen. Durch dich sollen alle Sippen der Erde Segen erlangen. Da ging Abram, wie der HERR ihm gesagt hatte, und mit ihm ging auch Lot. Abram war fünfundsiebzig Jahre alt, als er von Haran auszog.


Liebe Weltethos-Friedenssehnsüchtige, 

ich kann mich noch bestens erinnern. Es war Anfang Mai auf dem sensationell lebendigen Kirchentag hier in Hamburg 2013. Überall die Farbe blau und „So viel du brauchst“. Eine Zeitansage, wieder einmal. Mit der Frage: Was brauchst du, brauchst du wirklich, um gut zu leben? Familie? Ja. Haus, eine Heimat? Ja! ‘Ne Yacht? Nun gut. 

Und was brauchst du als Stadt, als Welt? Vor allem dafür, friedlich zu bleiben? Das, liebe Geschwister, trifft den Nerv bis heute. Angesichts von Krieg und Krisen, angesichts der immer schärferen Töne, die nicht nur in den angeblich sozialen Medien gnadenlos unsere Demokratie anzählen, angesichts schließlich eines steigenden Antisemitismus und einer Islamfeindlichkeit in bestimmten Kreisen, ist das die wichtigste Frage aller Zeiten. 

Und mit dieser Frage kam ich damals schon hierher, ich hatte gerade eines meiner zehn Podien hinter mir, just mit dem Interreligiösen Forum. Etwas zeitknapp und abgekämpft. Schwitzend wie heute, so wie das halt ist im eiligen Leben. Und hier: heilige Ruhe. Engelsgeduld. Gespräch. Ein Zelt. Frieden. Menschen mit Herz. Vor allem für Geflüchtete. Für Andersdenkende, Andersglaubende. So viele Menschen, die du brauchst, weil sie überzeugt waren und sind, dass man lernen muss, mit dem Herzen zu hören. Um zu verstehen, dass Unterschiede nicht trennen. Sondern dass sie einladen, sich mit ihnen zu befreunden. 

Und so geht das hier nun schon zehn Jahre mit dem Projekt Weltethos, ich gratuliere von Herzen, auch zum Engelgeburtstag. 10 Jahre, in denen so viel entstanden ist – angefangen von den Projekt- tagen, an denen sich Konfis mit Weltethos intensiv auseinandersetzen, über die Ausstellung „Weltreligionen, Welt, Weltfrieden“ und diesem wunderbaren Engelsquartett hier, bis hin zu den jungen Offizieren an der Führungsakademie der Bundeswehr, die einen Begriff davon bekommen, dass Religionen eben nicht allein zu Konflikten beitragen, sondern sie ganz entscheidend auch mit lösen können. 

Fazit: Man braucht sie, soviel nur geht, die Religion, die die Seelen nährt. Mit Worten, die dein Leben auf die Barmherzigkeit ausrichten. Mit Menschen, die Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen. Mit Gebeten, die den Frieden nicht aufgeben und die sich nicht abfinden damit, wie sehr Menschen und die Schöpfung leiden. 

Und mit ihrer Musik, die so verschieden sein kann von Klezmer über Bach bis zur arabischen Trauerflöte. Gerade die Musik ist hörbares Friedensspiel, das lieben, trösten und aufrichten kann. Wir haben es eben erlebt. Eine Sprache, die international verstanden wird und mit ihrer Tiefe Kraft zum Guten gibt. Wer miteinander musiziert, tötet nicht. Kein Zufall, das habe ich auf einer Reise nach Syrien erlebt, dass die IS-Kämpfer 2015 ebenso wie die Taliban heute in Afghanistan als allererstes eines tun, wenn sie ein Dorf erobern: Sie zerstören die Musikinstrumente. Und vernichten dann alles, was dem Menschen Lebensfreude schenken kann und Hoffnung. Gott bewahre uns vor solchen Fanatisten. 

Liebe Geschwister, unsere Welt braucht Ethos und damit viele religiös musikalische Menschen, die aktiv aufeinander zugehen. Die ihren Glauben leben – und den der anderen in aller Freiheit gut sein lassen. Solch Religionsfreiheit ist ein unglaublich hoher Wert in unserem Land! In dem die Mehrheit 

– wirklich die Mehrheit, liebe Gemeinde, das müssen wir uns immer wieder vor Augen führen – einen Wertekanon teilt, der etwas weiß von echter Toleranz und Nächstenliebe, von Achtung und Respekt Andersglaubenden und -lebenden gegenüber. Wäre sie bloß lauter, diese Mehrheit … 

Der Engel der Kulturen steht für diese Achtung der Gegenseitigkeit. Er, der alle Religionen verbindet wie Abraham auch. Vor zehn Jahren haben Sie ihn als Intarsie zwischen Gemeindehaus und Kirche eingelassen, was für ein Brückensymbol. Er erzählt davon, wie das geht – Halbmond, Stern und Kreuz –, die in einen gemeinsamen Kreis hineinragen. Nur miteinander und zugleich durch das Zurücknehmen und die Demut jedes einzelnen bilden sie ein heiles Ganzes: die Engelsform im Inneren. 

Jeder Engel nun – dieser die Religionen verbindende Gottesbote – hat interessanterweise immer das gleiche, erste Wort. Sind doch viele Menschen in der Begegnung mit dem Heiligen schnell verunsichert, ja ängstlich. Wer interreligiösen Dialog kennt, weiß das – immer ist da zunächst eine gewisse Furcht, dem Menschen mit seinem Gott womöglich zu nahe zu treten. Und irgendwas Falschen zu tun oder zu sagen. Großartig also die immer gleichen Engelworte zu Beginn: „Fürchtet euch nicht!“ Ob nun im hebräischen Testament, im Koran oder in den Evangelien. 

Fürchtet euch doch nicht vor dem, was Religion ist, wie sie Menschen erfüllt und bisweilen beflügelt, aber auch wie sie befremden kann mit ihren Ritualen, Worten, Gesängen. Durchaus auch mit den eigenen. Dabei hat die Ängstlichkeit viele Seiten. Sie kennt den zögernden Schritt. Das Undurchschaubare. Den Rückzug. Und sie kennt die aggressive, abwehrende Geste der Intoleranz. Und weil es davon heutzutage viel zu viel gibt, was wir absolut nicht brauchen, ist es so wichtig, den Schritt nach vorne zu gehen. Aufeinander zu, über manche Schwelle hinweg. Miteinander im Dialog. Mit dem, was uns ausmacht – und mit dem, was uns unterscheidet. Mit unseren Geschichten, Traditionen, religiösen Überzeugungen – unserer Weltverantwortung. 

Wir gemeinsam berufen uns dabei im Judentum, im Christentum und im Islam alle auf Abra(ha)m. Als Vorbild. Erzvater. Glaubensstarker Mensch. Der, das haben wir eben in der biblischen Lesung gehört, so hingebungsvoll Gott und seinen Verheißungen vertraut, dass er sein Leben von Grund auf verändert und aufbricht in unbekanntes, fremdes Land. Und das heißt auch: Das Gewohnte, vielleicht Traurige, all die Ansichten und Urteile, die Gedankenbarrieren und Berührungsängste, die sich in einem Leben angesammelt haben mögen, werden aufgebrochen. 

Geh da heraus, sagt Gott. Und nimm in dich hinein: Du bist gesegnet. Und so haben sich unsere Erzeltern mit Sack und Pack aufgemacht und zugesehen, „dass sie Land gewinnen“. Damit geben sie jeder Religion, die sich auf sie beruft, etwas grundsätzlich Dynamisches, Offenes, Zukunftweisendes. Wer glaubt wie Abraham und Sara, bleibt in Bewegung. Was könnte anti-fundamentalistischer, anti-extremistischer sein? 

Und das sage ich bewusst heute, am 11. September, an dem uns besonders deutlich und schmerzhaft vor Augen steht, was religiöser Fanatismus anzurichten und zu zerstören vermag. Ein 11. September, an dem direkt vor unseren Augen, mitten in Europa ein Krieg tobt, ein brutaler Angriffskrieg aus Machtkalkül und willkürlichem Herrschaftsanspruch. Ein 11. September auch, an dem vor Augen steht, was weltweit, etwa in den tobenden Internetforen, durch Intoleranz und Manipulation an Gesprächskultur und Demokratie zerstört wird. Ja, wie Fanatismus sich ausbreitet. 

Einer meiner Lieblingsschriftsteller, Amos Oz, Israeli und Friedenspublizist, hat 2002 Vorlesungen in Tübingen gehalten unter der Überschrift: „Wie man Fanatiker kuriert“. Wunderbar passend empfinde ich folgende kleine Passage: „Vor vielen Jahren, meine Damen und Herren, als ich noch ein kleines Kind war, erklärte mir meine Großmutter in sehr einfachen Worten den Unterschied zwischen Juden und Christen – nicht zwischen Juden und Moslems, aber zwischen Juden und Christen: „Du siehst“, sagte sie, „Christen glauben, dass der Messias schon einmal hier war und irgendwann wiederkommen wird. Die Juden bleiben dabei, dass der Messias noch kommen wird. Deswegen“, sagt meine weise Großmutter, „deswegen hat es so viel Zorn, Verfolgung, Blutvergießen und Hass gegeben. Warum?“, sagte sie, „warum kann man nicht einfach abwarten und sehen, was passiert? Wenn der Messias kommt und sagt  ,Hallo, schön euch wiederzusehen’, dann müssen die Juden zugeben, dass sie unrecht hatten. Wenn der Messias andererseits kommt und sagt ,Wie geht es euch? Schön euch kennenzulernen’, dann müsste sich die ganze Christenheit bei den Juden entschuldigen. Bis dahin“, sagte meine Großmutter, „ – leben und leben lassen.“ Sie war definitiv immun gegen Fanatismus. Sie kannte das Geheimnis, in Situationen mit ungewissem Ausgang zu leben, mit ungelösten Konflikten, mit der Andersartigkeit von anderen Menschen. Fanatismus beginnt – wie ich gesagt habe – daheim.“1 

Was brauchen wir also dringlicher als ein Projekt Weltethos? Ein Projekt, das hier in dieser Kirchengemeinde Blankenese eine lebensnahe und friedensrelevante Tradition geworden ist. Zehn Jahre lang schon sagen Menschen damit laut und vernehmlich: We have a dream. Den Traum nämlich, dass hier in diesem Land Respekt gezeigt, Gerechtigkeit ersehnt, Wahrhaftigkeit anerkannt und das Leben geliebt wird. 

Und so ist dieses Projekt auch ein Signal an die Furcht und die Wut: Lasst sie nicht das Leben bestimmen. Religionen sind mitnichten zuallererst Brutstätten eines Fundamentalismus oder glühender Jenseitsliebe, sondern sie sind die moralischen Weltagenturen schlechthin, eine Ressource der Hoffnung auf Frieden.

Und zwar jetzt und hier. Im Präsens. So viel du brauchst. Deshalb muss Religion bitte so frei sein, muss sich ereignen, ja alltagstauglich werden. Und deshalb ist es gut, dass mit so einem Projekt ein interreligiöses und interkulturelles Lernhaus uns voller Gastfreundschaft empfängt und sagt: Wie gut, dass du da bist. Soldat, Konfirmandin, Muslima, Christ. Die verwundete Welt braucht eure Stimme. Euer Hinsehen. Euer hörendes Herz. Denn wir alle gemeinsam, über die Generationen und Religionen hinweg, sind verantwortlich für eine Kultur, die das Unrecht und das Böse genauso wahrhaftig benennt wie das Gute, das es überwindet. 

Nur gemeinsam – danke für zehn Jahre Engagement, liebes Blankenese, für Weltethos und Friedendienst, nicht nur am Sonntag, sondern auch am Montag … Hoffen wir also auf viele kleine und große Zukunftsmenschen, Engel gar, die sich stark machen für ein religionstolerantes, demokratisches, friedenssehnsüchtiges Land. So, dass der Friede Gottes die Herzen erreiche. Er, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

1 Amos Oz: Wie man Fanatiker kuriert, 9. Auflage 2019, S. 57f.

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