Birgit Lahann – ein großer Name mitten unter uns in Blankenese

Journalistin, Autorin, im besten Sinn neugierige und engagierte Gesprächspartnerin vieler prominenter Menschen … all das ist mit dem Namen Birgit Lahann verbunden. Jahrzehnte recherchierte und schrieb sie für den STERN. Daneben hat Birgit Lahann zahlreiche Bücher mit solch unterschiedlichen Themen wie Abitur, Hochzeit, aber auch suizidalen Gedanken berühmter Menschen und Biographien geschrieben. Zunehmend galt ihr Interesse politischen Themen, vor allem dem geteilten Deutschland. Mit kritischem Blick, Hoffnung und viel Herz hat sie die Menschen in der ehemaligen DDR zu Wort kommen lassen in ihrem zuletzt erschienenen lesenswertem Buch „Als endete an der Grenze die Welt“. Die Verleihung des Theodor-Wolff- und des Egon-Erwin-Kisch-Preises würdigen eine Frau, die ihr Leben dem Schreiben und vor allem der kritischen Betrachtung politischer Entwicklungen verschrieben hat. Einer Frau, die sich einmischt!

Autorin Birgit Lahann © Dietz Verlag
Birgit Lahann ©Doralies Hütter

Vera Klischan hat sich in gebotenem Coronaabstand mit Birgit Lahann über ein ungemein spannendes Leben unterhalten.

Liebe Frau Lahann, Schreiben begleitet Ihr Leben! Das vermittelt mir Ihre berufliche Laufbahn. Das Theater, der STERN, viele Bücher machen Ihren Beruf aus. Erzählen Sie uns etwas über Ihren beruflichen Weg?

Gerne. Ich gehöre ja zu einer Generation, die noch alles ausprobieren konnte. Ich wollte Schauspielerin werden, Also probieren. Bei einem Vorsprechen, wenige Tage vorm Abitur, fiel ich bei Ida Ehre durch. So studierte ich Theaterwissenschaften und Germanistik, unterbrach das Studium ein paar Mal, arbeitete Anfang der 60er als Regieassistentin bei Peter Zadek am Bremer Theater. Seine Revue „Die Geisel“ von Brendan Behan war damals ein Schock, spielte im Puff, wo Rebellen gegen Nazis und Krieg aufriefen. In der Uni bot mir mein Professor an, bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen zu arbeiten. Jeden Abend Theater, „Andorra“-Proben von Fritz Kortner mit Klaus Kammer. Alles beglückend! Und so viel gelernt. Als man meine Lektorate für Radio Bremen, WDR und ZDF immer wieder lobte und ich ein Angebot vom Südwestfunk Baden-Baden bekam, brach ich das Studium ab, machte Premierenberichte von Zürich bis Frankfurt und moderierte Kultursendungen. Es waren herrliche Jahre. Vom Rundfunk wechselte ich dann zur Zeitung, schrieb für Publik, FAZ, Frankfurter Rundschau, Welt und landete Ende der 70er im Haifischbecken STERN.

Hatten/haben Sie beim STERN ein bestimmtes Ressort? Und wie sehen Ihre Beiträge aus, die Sie heute noch für das Magazin schreiben? 

Da ich von Anfang an zum Stab der Autoren gehörte, konnte ich für verschiedene Ressorts schreiben. Für Kultur über Autoren – Elfriede Jelinek, Heiner Müller, Ulla Hahn, Mario Simmel – aber auch für Politik, Gesellschaft, Unterhaltung, Sport. Als Helmut Kohl 1982 Kanzler geworden war, habe ich fünf Jahre in Bonn gearbeitet, Staatsreisen mitgemacht und Politikerportraits geschrieben. Sofort nach dem Mauerfall fuhr ich in die DDR, die ja noch ein Jahr existierte, bis sie in New York bei der UNO abgemeldet wurde. Damals begannen für mich die vielleicht aufregendsten Jahre meiner Journalistenzeit.  Gleich 1990, als Ibrahim Böhme für die SPD Wahlkampf machte, um erster freigewählter Ministerpräsident zu werden, kam heraus, dass er ein Stasispitzel war. Das wurde meine erste große Geschichte, die 1992 auch ein Buch wurde: „Genosse Judas“. Und mit 65 war dann Schluss. Geschrieben habe ich danach gelegentlich noch für GEO, Cicero, die Süddeutsche, und kurz vor Peter Zadeks Tod machte ich in den toskanischen Bergen hoch über Lucca in seinem Haus in Vecoli das letzte, sehr bewegende Interview mit ihm für die ZEIT. Für den STERN schreibe ich schon lange nicht mehr. Nur 2019 noch einen Nachruf auf Michael Jürgs, einen Freund, der einmal unser Chefredakteur war.

Wie kommt man von der Wochenzeitschrift zum Buch?

Zum Beispiel, wenn man eine Serie über Abituraufsätze für den STERN schreibt. Die erschien 1982 erweitert als STERN-Buch: 150 Jahre Zeitgeschichte in Aufsätzen Prominenter – zum Beispiel von Walter Jens, Margarete Mitscherlich, Willy Brandt, Kempowski, Cohn-Bendit, mit denen ich dann über ihre Aufsätze sprach. Willy Brandt schrieb 1932: „Vielleicht kann ich Konditor mit Abitur werden.“ In diesen Zeiten war das Reifezeugnis für ihn nur ein Berechtigungsschein, der zu nichts berechtigt. Und es handelt von Duckmäusern und Rebellen, also vielen Unbekannten. Beim Suchen hatte ich Hilfe von einer tollen Kollegin. Wir stiegen in Schul- und Staats-Archive, mussten Sütterlin wieder lesen lernen und jubelten, wenn wir Interessantes fanden. Bei den Unbekannten waren die politischen Themen aus zwei Weltkriegen am aufregendsten: „Zur rechten Zeit ist uns dieser Mann erstanden“,  schreibt ein Primaner 1933, „der aus reinem Idealismus Deutschland vor dem Untergang gerettet hat.“ Es war ein Jahr Schwerstarbeit. Aber gelohnt hat es sich. Und weil ich Jahr für Jahr auf der Frankfurter Buchmesse war, später auch auf der Leipziger, machte ich Autorengespräche und lernte Verleger kennen, die sich für meine Geschichten interessierten. So ergab sich das eine oder andere Buchprojekt. 

Schreibt man/Sie ein Buch anders als einen Artikel in einer Zeitschrift? Gibt es andere Schreibregeln? Was unterscheidet die Journalistin von der Autorin?

Ich weiß nicht, wie es bei Kollegen ist, die auch Bücher geschrieben haben.  Die Autorin Lahann unterschied sich jedenfalls nie von der Journalistin. Ich habe immer unorthodox gearbeitet, immer versucht, Geschichten so zu erzählen, dass man Lust hat, sie zu lesen. Einen guten Anfang brauchte ich. Dann kam ich weiter. Schreiben wird einem ja selten in die Wiege gelegt. Ich las damals meine besonderen Freunde: Heinrich Heine, Kurt Tucholsky, Alfred Kerr, fütterte mich mit Autoren, deren Stil ich bewunderte, schrieb ganz am Anfang bei Musik von Bach und bilde mit ein, von ihm Rhythmus gelernt habe. Ich schreibe, so oft es geht, im Präsens, um dem Leser das Gefühl zu geben, er sei mitten drin im Geschehen. Das schönste Kompliment über meine Art zu schreiben bekam ich von Günther Rühle, dem ehemaligen Intendanten und großen Theaterkritiker. Er schrieb mir zu meiner Biographie über Peter Weiss:

„Sie erzählen wunderbar, verarbeiten ohne den Seminarstil.“ Das hat mich sehr beglückt.

Aber Schreibregeln? Ich hatte nie welche. Ich erinnere mich, als einer unserer STERN-Chefredakteure uns zu einem Vortrag schickte, wo uns jemand erklären würde, wie man gute Reportagen schreibt. Ich habe nur gelacht und gesagt, da ginge ich nicht hin. Frau Lahann, Sie gehen auch! Okay, dachte ich, was man ablehnt, sollte man kennen. 

Und da erklärte uns ein Mensch, der aussah, als hätte er gleich einen Termin bei seiner Bank, wie lang der Anfang einer Reportage sein müsse, wann und in welcher Form das Thema an die Reihe käme und fing dann an, mit Kreide und Lineal die Reportage an der Tafel zu entwerfen. Sie sah aus, als würde sie zusammenstürzen. Nach 15 Minuten stand ich auf und sagte, für diesen Journalismus sei ich zu dumm.  

Sie haben Biographien geschrieben und besonders in den letzten Jahren über das faschistische Regime der DDR. Wie kommen Sie zu Ihren Themen?

Der Mauerfall fiel jedem Journalisten natürlich wie eine reife Frucht aufs Papier. Da konnte man sich vor Themen kaum retten. Und früher? Friedrich Dürrenmatt, las ich 1979, inszeniert in Basel sein Stück „Die Panne“. Das war ein Thema. Ich besuchte ihn in Neuchâtel, er fragte: Welcher Jahrgang sind Sie? 40? Hab‘ ich im Keller, kommen Sie mit. Und da lag im Gewölbe ein Heer von Flaschen. Alles Witwenweine, sagte er. Wenn hier die Männer sterben, bieten die Witwen mir ihre Weine an. Und dann tranken wir einen Roten von 1940. So vergnüglich beginnt eine Geschichte natürlich selten. Für Themen muss man Zeitungen lesen und Radio hören. Auch die STERN-Fotografen machten Vorschläge:  Dreharbeiten mit Fassbinder oder Liv Ullmann, Joseph Beuys hat Geburtstag. Es gab auch Themen um die Ecke: Horst Janssen, der Meisterzeichner. Das waren die verrücktesten Begegnungen, für die man schon mal ein paar Doppelseiten bekam. 1985, als die ersten Deutschen ins All flogen, machte ich eine Reportage über Ernst Messerschmid und Reinhard Furrer. Ich schrieb über Auschwitz und den aufblühenden Antisemitismus, über Terroraschläge in Italien sprach ich mit Alberto Moravia in Rom, mit Ingrid Bergman über ihre Memoiren in London oder mit Reiner Kunze, als der aus der DDR emigrierte. An Themen war nie ein Mangel.

Besonders das letzte Buch „Als endete an der Grenze die Welt“ zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung hat mich sehr beeindruckt. Bei der Lektüre habe ich mich gefragt, ob Sie tatsächlich 30 Jahre lang die Geschichten gesammelt haben und das Buch schon im Kopf hatten.

Die ersten fünfzehn Jahre habe ich fast ausschließlich im Osten gearbeitet, wohnte auch eine Zeitlang in Berlin. Am Anfang habe ich oft abends noch mit den Bürgerrechtlern Bärbel Bohley, Jürgen Fuchs und Ulrike Poppe bis in die Nacht diskutiert. Dann lernte ich die großartige Fotografin Ute Mahler kennen. Wir waren eine frühe, sehr vergnügte Wiedervereinigung, sind tausende Kilometer durch den Osten gefahren, sie kannte ja auch viele Leute. Es war eine tolle Zusammenarbeit. Ab 2007,8, las ich, was die Autoren im Osten inzwischen geschrieben hatten, sah die Filme „Das Leben der Anderen“, „Gundermann“, „Nackt unter Wölfen“, und die Tochter von Ibrahim Böhme, die ein Buch über ihren Vater geschrieben hatte, bat mich, ihre Lesung auf der Leipziger Buchmesse zu moderieren. Das waren dann die Geschichten für die späteren Jahre. Im Kopf war das Thema erst eineinhalb Jahre vor dem Termin 3. Oktober. Ich saß in Berlin in der Straßenbahn, als zwei Leute hinter mir über alte Zeiten redeten. Einer sagt: Mensch, Ende 2020 ist das alles schon 30 Jahre her…Da war das Buch im Kopf. Ich rief meinen Verleger an, schlug das Thema vor, und er sagte: Ja.  

Zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung ©Vera Klischan

Was war der Schlüssel zu den Menschen, die Ihnen ihr Leben und zum Teil auch ihre Herzen geöffnet haben?

Ich kam vom STERN. Das war meist ein gutes Entrée. Und ich hatte mich immer gut vorbereitet auf meine Gespräche. Hatte gelesen, was wichtig war, kann zuhören, habe Routine und auch – je nach Temperament meiner Befragten – eine lockere oder ruhige Art, mit Menschen umzugehen. Als ich Stefan Heym im Wahlkampf für die PDS begleitete, sagte er ein bisschen zu herablassend: Ich hoffe, dass Sie vorbereitet sind und meinen „Nachruf“ gelesen haben.“ Ich sagte: Jawohl, Herr Lehrer. Und als ich Jürgen Fuchs fragte, warum Ibrahim Böhme mir jede noch so private Frage beantwortet hat, erschrak ich, als er sagte: „Sie waren für ihn wie ein Führungsoffizier. Wenn das Tonband lief, redete er.“

Und genau das ist es, was mir immer vorgeschwebt hat: Ich wollte selbst Kompliziertes so leicht und erzählerisch wie möglich schreiben.

Täusche ich mich oder sind Ihre Bücher im Laufe der Jahre „politischer“ geworden?

Sie täuschen sich nicht. Das gilt vor allem für das Letzte Buch. Da ist nach einer braunen eine rote Diktatur zusammengebrochen, in der das Leben so vieler Menschen mit einer unglaublichen Gewalt zerstört wurde. Im Buch davor ging es um Schriftsteller in Zeiten des Faschismus. Und da beschreibe ich, wie die Diktatur nicht erst 1933 begann, sondern sich langsam, aber sehr merkbar, schon seit dem Ersten Weltkrieg zum brutalen Faschismus entwickelte. Und das ist auch ein Alarmzeichen für unsere jetzige Zeit mit aufblühendem Rassismus und Antisemitismus. Brecht hatte es im Epilog seines „Arturo Ui“ geschrieben: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Karl Jaspers drückte es so aus: “Nationalsozialismus kehrt nicht wieder. Dasselbe Unheil nimmt andere Gestalt an.“ Peter Weiss, mein „heimatloser Weltbürger“, war ein hochpolitischer Autor. Unvergessen, wie er, der Jude, der 1965 für das Oratorium „Die Ermittlung“ seine Fahrt nach Auschwitz beschreibt. Ein Text, der einen gefrieren lässt, denn: „Es ist eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam.“ Rolf Hochhuth, der mit seinem „Stellvertreter“ sehr früh schon über Auschwitz und Pius XII schrieb, der sich Stellvertreter Christi nannte, aber die Mörder nicht laut beim Namen nannte. Hochhuth hatte nie eine Biographie bekommen. Ich schrieb sie mit höchstem Vergnügen vier Jahre vor seinem Tod. Er war ein toller, sehr offener Erzähler, und ich sagte ihm, ich würde auch ein paar seiner komischen Telefonate mit mir über einige Kapitel setzen. Fand er prima. Es war eine Freude, ihm zuzuhören. So leicht habe ich nie wieder ein Buch geschrieben. Und Hochhuth freute sich riesig, als Martin Walser schrieb: „Diese Biographie ist das Lebendigste, was ich in diesem Genre je zu lesen bekam.“ Und genau das ist es, was mir immer vorgeschwebt hat: Ich wollte selbst Kompliziertes so leicht und erzählerisch wie möglich schreiben.

Sie schreiben wunderbare, gehaltvolle Bücher. Haben Sie ein Lieblingsbuch oder „Lieblingsliteratur“?

Aber ja. Zu meinen Lieblingen gehört Kurt Tucholsky. Ich habe mich – als Horst Seehofer sein merkwürdiges Heimatministerium gründete – immer gewundert, warum kein Kritiker auf die Idee kam, mal in Tucholskys Text „Heimat“ zu schauen. Denn da will er „euch mal was sagen: Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben.“ Und wie er dann seine Heimat beschreibt, wunderbar! Ganz anders ist es mit Friedrich Nietzsche. Er ist ein Sprachkünstler.  Sein „Zarathustra“ ist Musik, seine Sätze tanzen dazu. Schon wie er in seinem Poem „Das Wort“ schreibt, dass man es nicht plump betasten und bedrücken darf, denn “es stirbt oft schon an bösen Blicken“. Ich lese ihn so gern.

Und Lieblingsbücher? Da fallen mir spontan Brechts Gedichte ein. Dann Ernst Tollers „Eine Jugend in Deutschland“, Klaus Manns „Der Wendepunkt“, Sartres „Die Wörter“, Philip Roth mit „Portnoys Beschwerden“, und immer aufs Neue Dürrenmatts „Stoffe“.  

Haben Sie schon ein neues Buchprojekt im Kopf?

Nein. Das kommt per Zufall. Jetzt lese ich nach rumreisen, recherchieren, schreiben, korrigieren endlich mal wieder Bücher. Im Moment Patricia Highsmith und Thomas Bernhard – herrlich

Liebe Frau Lahann, ich danke Ihnen herzlich, dass Sie mir – uns – einen Einblick in Ihr erlebnisreiches Leben gewährt haben. Ich freue mich auf viele weitere Bücher von Ihnen. Sie haben mir noch einmal sehr deutlich den Stellenwert von Literatur vermittelt. Zu lesen, Inspiration aus Büchern zu schöpfen ist gerade in dieser Pandemie ein großer Schatz – und eigentlich unverzichtbar. 

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