100 Tage im Amt – Fragen an Pastor Engelbrecht
Die berühmten 100 Tage sind längst vorbei und Pastor Engelbrecht bereits fest in der evangelischen Gemeinde verankert. Vera Klischan hat nachgefragt, wie der Sprung von der quirligen Innenstadt in das Blankeneser „Dorf“ gelungen ist.
100 Tage (und mehr) im Amt – wie ist die Bilanz?
Insgesamt sehr positiv! Wir sind als Familie sehr freundlich in Blankenese empfangen worden. Die Menschen freuen sich, dass wir da sind und das Licht im Pastorat leuchtet. Ich treffe auf viel herzliches Engagement und merke, da gibt es viele Schätze in Blankenese zu heben.
Zugleich ist der Stadtteil sehr vielseitig, da habe ich längst noch nicht alles entdeckt und verstanden. Am liebsten würde ich mir zwei oder drei Leute schnappen und sie bitten: „Zeig mir dein Blankenese!“ Die Herausforderung besteht darin, dass es hier schon ganz viel Wunderbares gibt, aber zugleich die Lust und das Bedürfnis nach Weiterentwicklung und bei vielen das Bewusstsein von der Notwendigkeit zum Aufbruch! Dabei beschäftigen uns ernsthafte Fragestellungen: die Sorge um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und für eine lebendige und wehrhafte Demokratie, die Frage nach der Einbindung und Aktivierung von Menschen für Kirche und Gemeinwesen und dabei ganz aktuell der Vertrauensverlust, der aufgrund der Missbrauchsfälle in unserer Kirche droht, die Rückkehr des Krieges als Realität in der Welt und in Europa, die Frage, wie es gelingen kann, unseren Planeten nachhaltig als einen lebenswerten Ort für alle Menschen und kommende Generationen zu erhalten.
In Zeiten wie diesen ist deutlich: Wir können nicht einfach stehen bleiben, auch wenn wir uns das manchmal wünschen, so wie Faust bei Goethe, wenn er seufzt: „Oh Augenblick, verweile doch, du bist so schön!“ Verweilen und zur Ruhe kommen sind wichtige Talente, aber so wie zum Einatmen das Ausatmen gehört, und unser Körper sich erhält, indem er durch den Stoffwechsel unablässig im Austausch mit der Welt ist und sich stetig entwickelt und verändert, gehören Veränderung und Entwicklung dazu, wenn wir unser Leben und seine Schönheit erhalten wollen. Das ist in der Praxis oft leichter gesagt als getan. Eine Idee haben ist das eine. Diese Idee mit all den Netzwerken und Details umsetzen, die dazu gehören, ist das andere. Die Kunst besteht dann darin, Fülle und Vielfalt so zu ordnen und zueinander zu bringen, dass der Schwung nicht verloren geht, und auch die Frage zu wagen: Was nehme ich auf, was lasse ich liegen?
Hat sich das neue Pastorentrio gut eingespielt?
Es ist sehr erfrischend, wie gut wir zusammen funktionieren. Ich erlebe Klaus-Georg Poehls mit seiner Erfahrung – er ist doch, darf ich das sagen?, ein echtes Blankeneser „Urgestein“ – und mit seiner warmherzigen Menschlichkeit und guten Humor als einen wunderbaren Kollegen. Ebenso Julia Karera-Hirth, die als junge Pastorin in ihrer ersten vollen Pfarrstelle unser Team mit ihren vielfältigen Talenten, guter Energie, fröhlicher Menschlichkeit, Neugier und auch Nachdenklichkeit bereichert. Wir ergänzen uns mit den unterschiedlichen Perspektiven und verstehen uns sehr gut. Das ist nicht selbstverständlich. Ich freue mich über dieses wunderbare Zusammenwirken in Kollegenteam.
Gibt es besondere Zuständigkeitsbereiche für jeden?
Es gibt gewisse Zuständigkeitsbereiche. Kinder und Jugend liegen beispielsweise vorwiegend bei Julia Karera-Hirth. Sie ist das Gesicht des FaGo (Familiengottesdienst). Klaus-Georg Poehls hat seine eigenen Konfirmandengruppen und engagiert sich im Bereich der Seniorenarbeit, für den Seglergottesdienst, Flüchtlingsarbeit, unser Tansania-Projekt und das Thema Weltethos.
Ich engagiere mich für die GemeindeAkademie, die Stadtteilarbeit, die Finanzen, Kultur und Musik und die Gottesdienstformate, außerdem bin ich im Friedhofsausschuss.
Zugleich ist uns wichtig, dass wir uns gegenseitig unterstützen und inspirieren und auch Projekte miteinander verknüpfen. So unterstütze ich Julia beispielsweise dabei, den FaGo weiter zu beleben, plane eine Reise im Sommer mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus den Schulen nach Oswiecim zu den Gedenkstätten von Auschwitz und Birkenau, und möchte mich auch beim Weltethos einbringen. In alledem verhindern wir eine reine Spartenbildung. So behält jeder von uns den Gesamtüberblick und die Zuständigkeiten wechseln sich ab.
Was ist die größte Aufgabe hier im Stadtteil für die Kirche?
Wir können auf den Grundprinzipien, welche die Blankeneser Kirche bisher lebendig gemacht haben, aufbauen, so dass der Gemeinde zum Wahlspruch geworden ist: „Mitten im Leben. Mitten im Ort. Verbunden mit Gott und den Menschen.“ Das bedeutet, dass wir weiter daran wirken, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen und Fragen zu stellen „Was sind die Dinge, die uns betreffen? Wie kommen wir zu Lösungen?“
Die Gesellschaft hat eine große Ausdifferenzierung erlebt. Daraus ist eine große Vielfalt entstanden. Die Frage ist jetzt, wie fügen wir zusammen. Wie kommen wir von der Vielfalt zu einer organischen Einheit, die die Vielfalt nicht einebnet, sondern zum Blühen bringt. Ich benutze da gern das Bild des Körpers, der nur funktioniert, weil die einzelnen Teile miteinander im „Gespräch“ sind, so wie Paulus dass im 12. Kapitel seines 1. Korintherbriefes beschreibt: die Gemeinde als Körper, in dem die einzelnen Körperteile, Sinne und Organe einander ergänzen, sich aneinander freuen, einander unterstützen, miteinander leiden. Denn wenn ein Teil des Körpers schmerzt oder nicht funktioniert, leidet der ganze Körper mit. So auch in unserer Gemeinde und unserem Stadtteil: Wir haben Kinder, Jugendliche und Senioren, wir haben Klassik, Gospel und bald gerne auch Jazz und Blues. Wir haben Kitas neben dem Hospiz, und wir planen in der Initiative „Du! mittendrin“ zusammen mit dem Träger „Lebenshilfe e.V.“ ein Haus für Menschen mit Förderbedarf, so dass wir Kindheit und Alter, Zerbrechlichkeit, Sterben und Aufbruch hier mitten im Stadtteil haben: mit der Kirche am Markt und dem Gemeindehaus, das eine Begegnungsstätte für alle bietet.
Aber die Kommunikation all dieser vielfältigen Aspekte funktioniert nicht einfach von selbst, sondern braucht Menschen mit Phantasie und Herz und Tatkraft und Gelassenheit, die Verbindungslinien ziehen und halten. Und so besteht eine Aufgabe unserer Kirchengemeinde darin, Menschen zu finden, die helfen, die großen Themen wie Leben und Sterben – Alpha und Omega – gesellschaftlich relevant in den Stadtteil zu spielen, gerne handlungsorientiert und zugleich ohne Aktionismus, aus einer inneren Ruhe heraus. Geduldige Ungeduld nenne ich das. Zu der gehört, dass wir uns für Lebensfreude öffnen und zugleich lernen, Verlust, Wehmut und Schmerzen als Teil des Lebens zu begreifen. „Herr, lehre uns, dass wir sterben müssen, dass wir weise werden!“ heißt es in Psalm 91. Und das bedeutet: Echter und fröhlicher Aufbruch braucht die Bereitschaft zum Abschied. Verluste gehören zum Leben. In aller Freude und Pioniergeist, müssen wir uns unserer Tränen nicht schämen.
Was unterscheidet die Arbeit hier „im Dorf“ von der Innenstadt?
Manches ist ganz anders, vieles erkenne ich aber auch wieder. Wie St. Katharinen, woher ich komme, ist die Blankeneser Kirchengemeinde deutlich kulturaffin und mit der GemeindeAkademie auch im intellektuellen und gesellschaftlichen Diskurs engagiert. Dazu kommt die aktive Rolle im Stadtteil mit dem Zukunftsforum und den vielen lokalen Netzwerken und -trägern – zusammengefasst in Blankenese Miteinander – sowie die Lust an der Arbeit mit allen Generationen und ein starker Schwerpunkt auf der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Und hier wie dort habe ich die Elbe vor der Haustür.
Der Unterschied ist gewiss, dass ich in St. Katharinen dabei war, wie in der Altstadt ein ganz neuer Stadtteil entsteht, während ich hier auf eine gewachsene Gemeinde- und Gemeinwesenstruktur treffe. Ich liebe die vielfältige und kleinteilige Struktur der Stadt, vor allem im Treppenviertel, mit ihrer sozialen Dichte und den vielen Bildungseinrichtungen in den Schulen und Kitas. In diesem Sinne steht das „Dorf“ Blankenese heute da, wo ich die Hafencity und Altstadt in 20 Jahren gerne sehen würde. Das schließt auch ein, dass wir hier in Blankenese mehr Grün haben und auch einen direkten Zugang zur Elbe. Das haben Altstadt und HafenCity nicht – noch nicht! Denn ich glaube, wenn die Stadt hier ein paar Sachen richtig macht, kann das alles noch kommen. Wer wissen will, was ich meine, sollte zu unserer Veranstaltung mit dem Architekten Christian Kottmeier zur Elbvertiefung am Mittwoch, dem 21. Februar, zu uns in die Gemeindeakademie kommen …
Welche Bedeutung hat das Haus, das für behinderte Menschen in Planung ist, für Sie?
Das ist eine großartige Initiative, die von betroffenen Eltern mit ihren Kindern in Gang gesetzt und von der Gemeinde zusammen mit der Lange Rode Stiftung aufgenommen und mit Kräften unterstützt wird. Auch biografisch berührt es mich, da ich in meiner ersten Pfarrstelle Schulpastor an der Bugenhagen-Schule in der Stiftung Alsterdorf war, in der wir mit Kindern mit und ohne Behinderung gearbeitet haben. Seit dieser Zeit weiß ich, wie großartig es für alle Beteiligten ist, dass Menschen mit Förderbedarf hier die Möglichkeit bekommen, eigenständig zu leben, dass wir sie also nicht in Betreuungseinrichtungen wegschließen, sondern sie mittendrin dabei sind in Stadtteil und Gemeinde. Das ist nicht nur wichtig für diese Menschen, sondern auch eine große Chance für den Stadtteil, wenn wir uns von diesem Thema berühren lassen. Denn wo Menschen mit einer so genannten Mehrfachbehinderung Teil unseres Alltags sind, lernen wir mit ihnen, unsere eigenen Begrenzungen, Ecken und Kanten wahrzunehmen, sie mit Güte und Humor anzunehmen, um sie im besten Fall sogar als Gewinn zu erachten, als Zugang zu unserer Menschlichkeit, die doch immer auch Mitmenschlichkeit bedeutet. „Assistenzbedarf“ ist dementsprechend kein Mangelbegriff, sondern Ausdruck unserer Menschlichkeit, die doch immer auch Mitmenschlichkeit bedeutet. Von Geburt an bis zum Ende unseres Lebens sind wir aufeinander angewiesen. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern unsere Stärke.
Wie geht es Ihrer Familie in Blankenese?
Wir sind gut angekommen in dem wunderschönen Pastorat. Mit meiner Frau bin ich mir sehr einig, dass wir die großzügigen Räumlichkeiten im Erdgeschoss des Pastorats für Gemeinde und Stadtteil öffnen wollen, um sie als Begegnungsort zu nutzen und Verbindungen zu schaffen wie oben beschrieben. Wir fühlen uns wohl im Stadtteil, genießen die Offenheit und Neugier derer, die wir treffen, dazu die Schönheit des Stadtteils und der Landschaft, die Nähe zur Elbe. Daran ändert auch nichts, dass ich manchmal meine alte Heimat vermisse, die Altstadt mit Speicherstadt und HafenCity, in der wir die letzten zwanzig Jahre zu Hause waren. Nie in meinem Leben haben meine Frau und ich länger an einem Ort gelebt, und dort sind auch zwei unserer Kinder geboren und aufgewachsen.
Da vermisst unsere mittlere Tochter, die noch bei uns wohnt und sich hier ein richtig schönes Zuhause geschaffen hat, manchmal doch das Leben im Herzen der Stadt, und meine Frau, die als Familiengutachterin am Familiengericht und Geschäftsführerin von startsocial e.V. arbeitet, hat jetzt nicht mehr zehn Minuten mit dem Fahrrad, sondern etwa 40 Minuten mit der Bahn zu ihren Arbeitsstellen an den Landungsbrücken und der Kehrwiederspitze.
Foto: Dr. Sunniva Engelbrecht
Aber wie schon gesagt: Kein Aufbruch und kein Neuanfang, ohne dass wir etwas hinter uns lassen oder auch verlieren. Und irgendwie ist das doch auch ein gutes Zeichen, dass mit dem Umzug eine Sehnsucht in unseren Herzen bleibt, denn diese Sehnsucht zeugt doch von der Schönheit dessen, was wir hatten. So schauen wir mit Dankbarkeit für diese Fülle und Schönheit zurück und mit Zuversicht und Tatendrang nach vorn.
Was ist das Schönste/Beste an Ihrer Arbeit?
Das schönste ist die Erfahrung, mit meiner Familie in einem Land und einer Stadt zu wohnen, in denen Frieden herrscht, und das an einem wunderschönen Ort, an dem Phantasie und Lust zum Aufbruch mit Ideenreichtum und dem Rüstzeug einer sehr lebendigen Tradition gefragt sind, dazu die Begegnung und das Zusammenspiel mit vielen sehr unterschiedlichen Menschen sowie die Güte und der Humor, mit denen wir zusammenkommen, wirken und auch mal streiten, und das alles in der Zuversicht, dass wir Veränderungen nicht nur erwirken müssen, sondern auch können, und schließlich: Die Kinder und die Musik, der Blues, der Jazz, die Klassik und mehr, die mir das Herz öffnen.
Lieber Herr Pastor Engelbrecht, herzlichen Dank für Ihre Zeit und den berührenden Einblick in all das, was der Wechsel nach so vielen Jahren für Sie und Ihre Familie bedeutet. Wehmut und Verlust, aber auch Aufbruch und große Freude am gemeinsamen Gestalten. Wir freuen uns auf den Weg, der mit Ihnen vor uns liegt.
Schade, dass es so ein 100-Tage-Interview nicht auch mit Pastorin Karera-Hirth gab.
Gibt es in der kommenden Woche!